Legenden der Gegenwart
Der Engel ist seiner Geschichte und seinen Geschichten nach etwas Mehrdeutiges, seiner Definition nach ein „in Frage stehendes Wesen“ (Anguéliki Garidis). Er ist Bote, Verkündiger, Reisender zwischen den Welten – zwischen Himmel und Erde, Himmel und Hölle, er kann dem Guten, der Rettung zugehören, aber auch dem Bösen, er kann ein Erhöhter wie ein Gefallener sein. Er erhält sein Wesen zwischen den Zeiten, zwischen den Geschlechtern, zwischen Toten und Lebenden, zwischen Geist und Materie. So wird der Engel Platzhalter des Rätselhaften ebenso wie Spiegelbild des Menschenwesens, aber auch Figur der Überschreitung und Personifikation des Möglichkeitssinns.
In Konfigurationen dieses Spektrums taucht der Engel seit der Moderne immer wieder in künstlerischen, poetischen und philosophischen Reflexionen auf: So der Engel Walter Benjamins, ein Engel der Geschichte, aber auch ein Spiegelbild, ein anderer Engel der Gegenwart, der Verlorene und Außenseiter von Michel Serres und zuletzt der „leere Engel“, der für Peter Sloterdijk den Menschen unserer Zeit als Opfer einer mediatisierten Welt darstellt.
Der Engel figuriert also als Metapher, als Metapher für Identität und für Personifikation, für die Möglichkeiten des Menschen, sich in der Welt und in einer gegenwärtigen Welt einzurichten und sich einen Platz zu bestimmen.
Künstler haben in den letzten Dekaden die Krise der Identität thematisiert, sie haben die „leeren Engel“ gezeigt, ebenso haben sie Alternativen entworfen. Ein großes Spektrum von Werken ist der Überschreitung, der Transformation verschrieben. Das „Andere“ wird als Gegenbild und Kehrseite, aber auch als Flucht aus irdischer Gebundenheit oder als Verwandlung menschlicher Körperlichkeit und Seinsweise zum Thema.
Nicht zuletzt ist der Engel nicht bloß Vermittler von Botschaften, sondern auch von Formen der Darstellung, hier wird der Engel ein „notwendiger Engel“ (Massimo Cacciari), der Engel kann so auch Sinnbild des Ästhetischen sein, Metapher für einen Möglichkeitssinn, der aus dem Sichtbaren die Ideen und die in ihnen verborgene Wahrheit erahnen läßt.
Die Ausstellung zeigt über 50 Künstler, die es mit dem „Anderen“ aufnehmen – mit der Rückseite des Daseins, mit der Übertretung, mit der Flucht aus dem Wirklichen, mit der Wandelbarkeit des Menschenwesens und mit potentiellen Verwandlungen. Es sind vor allem Künstler der Gegenwart, der Rückblick erfaßt nur eine kurze Zeitspanne, ein halbes Jahrhundert – den Beginn einer Zeit, in der das Immaterielle als Idee des ganz Anderen in die Kunst Einzug hält. Die Kunst nimmt nun eine Dimension des „Werdens“ in Anspruch.
Immer enthält diese Dimension des Immateriellen, aus der Welt Hinausweisenden auch das Verhältnis zum Menschen in seiner Körpererscheinung. In dem zeichenhaften Rückblick auf Yves Klein ist das Paradigma der Überschreitung eingefangen.
Nach einem Entrée mit Rückblicken geht der Gang der Ausstellung von Konfrontationen über Stilisierungen bis hin zu transformatorischen Bewegungen der körperlichen, der sexuellen und der sozialen Persona; der Körper ist Projektionsfläche der Idee, ebenso das Gesicht. Der zentrale Teil der Ausstellung zeigt Werke von Bruce Nauman, Andres Serrano, Nan Goldin, Helen Chadwick, Inez van Lamsweerde, Hermione Wiltshire, Elke Krystufek, Greer Lankton, David Wojnarowicz, Gary Hill, u.a.
Mit dem Auftauchen des Gesichts beginnt ein Bereich, der sich Phantasien und Phantasmen zuwendet, die zu Ende des Rundgangs Spiegelungen und Ahnungen des Anderen aufleuchten lassen, die Begegnungen des Betrachters mit sich selbst entstehen lassen sollen. In diesem Kontext werden Arbeiten von Thomas Ruff, Jean-Pierre Bertrand, Javier Peréz, Mary Carlson, u.a. vorgestellt.
Teilnehmende KünstlerInnen:
Rita Ackermann, Franz Artenjak, Bizhan Bassiri, Jean-Pierre Bertrand, Richard Billingham, Christian Boltanski, Louise Bourgeois, Sophie Calle, Mary Carlson, Helen Chadwick, Judy Fox, Gautel & Karaindros, Gilbert & George, Nan Goldin, Franz Graf, Joseph Grigely, Alexis Hall, Mona Hatoum, Gary Hill, Thomas Hoke, Birgit Jürgenssen, Gudrun Kampl, Mike Kelley, Yves Klein, Klonaris & Thomadaki, Elke Krystufek, Inez van Lamsweerde, Greer Lankton, Ingeborg Lüscher, Robert Mapplethorpe, Annette Messager, Bruce Nauman, Tony Oursler, Susie Parker, Javier Peréz, Raymond Pettibon, Thomas Ruff, Eva Schlegel, Beverly Semmes, Andres Serrano, Jim Shaw, Cindy Sherman, Nicholas Sinclair, Kiki Smith, Nancy Spero, Rosemarie Trockel, Lois Weinberger, Franz West, Hermione Wiltshire, David Wojnarowicz, Francesca Woodman.
Ein Musikprogramm mit sechs Events wird von Juni bis September 1997 die Ausstellung begleiten.
Vom 29. August bis 4. September 1997 wird im Filmhaus Kino ein Filmprogramm das Projekt „Engel, Engel“ ergänzen.