In sieben Podcast Episoden erweitern Carolin Melia Brendel, Rebecca Fuxen und Martin Rovan, Tizia Grether, Simon Nagy, Kervin Saint-Pere, Lia Sudermann und Andrea Zabric die künstlerischen und diskursiven Felder, die die Ausstellung Cybernetics of the Poor aufspannt.
Cybersounds entfaltet beispielhafte Momente kybernetischen Denkens in den Bereichen Geschichte und Politik, in Finanzmodellen und kulturellen Phänomenen. Von der bolschewistischen Protokybernetik im vorrevolutionären Russland über die postkybernetische Hippie-Bewegung bis hin zum digitalen Kapitalismus thematisiert die Podcast-Reihe das Auftreten von Metawissenschaften, die Aneignung von Feedback-Systemen und die Erstellung von Modellen zur Antizipation von systematischem Risiko. Von der russischen Avantgarde und den Wiener Kreis über kybernetische Klänge in der Popmusik bis hin zum Glitch-Feminismus spiegelt Cybersounds die universalistische Agenda der Kybernetik sowie die Verbreitung ihres transdisziplinären Versprechens wider.
Cybersounds ist eine Kooperation zwischen der Kunsthalle Wien und den Studierenden des Master in Critical Studies der Akademie der bildenden Künste Wien.
Lia Sudermann: Kybernetik und Hippies
„TheraPsy ist eine spezielle Software für Psychotherapie. Also Thera mit Th wie Therapie, nicht wie Terra: Erde. Dabei würde TerraPsy viel besser passen, schließlich sind die Erde, also Gaia oder besser gesagt DER BLAUE PLANET und das SELBST, das in der Therapie bearbeitet wird, gleichzeitig entstanden.”
In Lia Sudermanns Podcast geht es um Feedback als gruppendynamische Therapiemethode, um Selbstverantwortung und Schuld, um the power of now und darum, was die Eroberung des Selbst mit der Eroberung des Weltraums zu tun hat.
Tizia Grether
„Become your avatar. Be the glitch.“
Die Künstlerin und Theoretikerin Legacy Russell untersucht in ihrem Glitch Feminism Manifesto Strategien der Avatar-Erzeugung auf deren emanzipatorischen Gehalt. Glitch bedeutet für sie nicht nur to slip oder to slide, sondern bezeichnet auch einen Prozess der Feedback-Schleife zwischen real und virtuell. Tizia Grethers Podcast verknüpft Russells Thesen mit Adrian Pipers ikonischem Alter Ego Mythic Being, der – interpretiert als Avatar – Kategorien von class, race, gender, and sexuality zur Disposition stellt. Dabei wird die Frage aufgeworfen, inwiefern diese künstlerische Praxis eine widerständige Kybernetik der Armen darstellen kann.
Simon Nagy & Axel Stockburger: Red Cybernetics
Alexander Bogdanow entwirft im Vorfeld der Oktoberrevolution 1917 eine bolschewistische Proto-Kybernetik. Sie manifestiert sich in Experimenten mit wechselseitiger Bluttransfusion, cyberkommunistischen Science-Fiction-Romanen, der Proletkult-Bewegung und einer Metawissenschaft namens Tektologie. Axel Stockburger und Simon Nagy sprechen über das Verhältnis von Bogdanows Lehre zur späteren Kybernetik und über die politischen Einsichten, die vor allem aus ihren Differenzen gewonnen werden können.
Carolin Melia Brendel: Cybernetics of the Rich
Michael Simku und Carolin Melia Brendel diskutieren das ambivalente Verhältnis zwischen Kybernetik und digitalem Kapitalismus. Dabei sprechen sie über Brendels finanzsoziologische Forschung zur Konjunktur von kybernetischen Risikomodellen in sogenannten Krisenzeiten sowie über ihre künstlerisch-wissenschaftliche Praxis und die/ihre aktuelle Videoarbeit the gaze and the machine (2020).
Rebecca Fuxen & Martin Rovan
Cold Crystal Timbres, Mixtape
Cold Crystal Timbres recalls the immediate past. Hight-tech emotions and synthetic unnaturalness: When sonic hybridities were echoing early 2000s pop.
Anfang der 2010er wird das Internet, einst Zufluchtsort von Nerds und Enthusiast*innen, für viele zugänglich. An das frühe Internet geknüpfte Utopien, wie die eines anonymen und demokratischen Cyberspaces, werden endgültig durch eine neoliberale Silicon Valley Ideologie verdrängt, die sich in Plattformen wie Facebook und Amazon manifestiert.
Rebecca Fuxen und Martin Rovans Mixtape Cold Crystal Timbres ist eine Hommage an jene Musik, die aus diesem strukturellen Wandel hervor ging und sich ästhetisch auf ihn bezieht. Diese hybride Musikrichtung, die zwischen 2010 und 2015 entstand, ist gekennzeichnet durch kühle digitale Sounds, aber auch nostalgischen Pop Referenzen. Sie ist eingebettet in Kollektive, lose Assoziationen, Labels, Events oder kuratorische Projekte, die sich vor allem über Plattformen wie Soundcloud und Myspace vernetzen. Obwohl diese Musik vorwiegend im klassischen Club Setting stattfindet, sind es transnationale, digitale Vernetzungspraktiken, die politische Aktivismen und Solidarität schaffen: Viele der Kollektive etablieren Plattformen für DJs, Producer*innen und Aktivist*innen. Sie reclaimen den weiß und männlich dominierten Club, betonen seinen queeren Entstehungskontext und die zentrale Rolle von BPoC innerhalb der Club Musik.
Hört man die digitalen, hochaufgelösten Sounds jener Zeit, so werden die Intersektionen von digitaler Alltags-Kultur und Musik erfahrbar – ebenso wie der Einfluss, den die technologischen Entwicklungen auf die Lebensrealitäten der Künstler*innen haben.
Kervin Saint-Pere: Vom Karteikasten in den Cyberspace
Vom Karteikasten in den Cyberspace ist eine Auseinandersetzung von post-dekolonialen Perspektiven aus Südamerika mit den Klassifikationsformen der altertümlichen Sozialwissenschaften Volkskunde und Völkerkunde, die als Vorläufer der Ethnologie wirkten und zugleich als Grundlage von Normativitätskonstruktionen dienten.
Die ersten systematischen ethnologischen Klassifizierungen betrachte ich bezüglich ihres Verhältnisses zur intellektuellen „Kolonialität der Macht“. Die Trennung zwischen Europäern und Nicht-Europäern und die Homogenisierung von Bevölkerungen (ebenjenen Nicht-Europäern) diente als Bestandteil der Ausarbeitung einer neuen sozialen Klassifizierung. Es sind historische Machtverhältnisse und koloniale Strukturen, die auch heute noch in kolonialen Denkmustern sichtbar sind.
Nach der Besichtigung des Bildarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und der Analyse der Informationsstrukturen, die ursprünglich in Form von Karteikarten und Archivkarten gesammelt und klassifiziert wurden, und sich als noch sichtbare koloniale Spuren zeigen, wird eines deutlich: dass sich diese Strukturen auch im „Cyberspace” widerspiegeln, der als Raum für soziale Interaktion und Ordnung fungiert.
Andrea Zabric
Im Gespräch mit Kunsthistorikerin Daniela Stöppel über Protokybernetik im Werk des Wissenschaftlers Otto Neurath und des Künstlers El Lissitzky
Daniela Stöppels Dissertation von 2008, Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950 – Verkehrszeichen, Farbleitsysteme, Piktogramme, widmet sich den Verknüpfungen zwischen bildlichen Zeichensystemen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Publikation in Form eines roten Buchs war der Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit dem utopisch-ideologischen Dialog zwischen zwei (linken) Akteuren: El Lissitzky, einer chamäleonhaften Figur der internationalen Avantgarde, und Otto Neurath, einem Enzyklopädisten auf leidenschaftlicher Aufklärungsmission. Was sie eint, ist ein ganzheitliches Denken.