Die Verfügbarkeit des Ostens

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Ein Gespräch mit Sónia Melo und Flavia Matei, geführt von Ana Hoffner ex-Prvulovic*

Ana Hoffner ex-Prvulovic*: Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist oft zu hören, dass die Nahrungsmittelproduktion und die Pflegearbeit es in die mediale Öffentlichkeit geschafft haben. Das erweckt den Anschein, als wären diese Arbeitsbereiche vorher nicht dagewesen. Tatsächlich weist das aktuelle System der Beschäftigung von Erntehelfer*innen und 24-Stunden-Betreuer*innen eine Struktur der Ausbeutung auf, die nicht erst jetzt entstanden ist. Die beiden Initiativen Sezonieri – Kampagne für die Rechte von Erntearbeiter*innen und DREPT – Interessensvertretung der 24-Stunden-Betreuer*innen setzen sich für bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte ein und leisten gleichzeitig eine Analyse und Sichtbarmachung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse, die diese erzeugen. Was genau machen Sezonieri und DREPT?

Sónia Melo: Sezonieri hat zwei Zielgruppen: die erste, unsere Hauptzielgruppe, sind Menschen, die in Österreich als Erntearbeiter*innen – also in der Ernte von Obst, Gemüse und Wein – tätig sind, vorwiegend sind diese Menschen Migrant*innen. Die Kernarbeit von Sezonieri ist, sie über ihre Rechte aufzuklären: über mehrsprachige Informationsfolder, Telefon-Hotlines, Informationsvideos und Arbeitszeitkalender. Darüber hinaus bieten wir ihnen an, sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen, sprich, wenn sie das wollen, sie vor Gericht zu vertreten. Diese Aufklärung und rechtliche Unterstützung bieten wir anonym und kostenlos an. Die zweite Zielgruppe ist die Öffentlichkeit, die heimische Bevölkerung. Diese wollen wir über bildungspolitische Arbeit auf die Ausbeutung von migrantischen Erntearbeiter*innen aufmerksam machen, sie dafür sensibilisieren.

Seit 2014 fahren wir mit unseren Informationsmaterialien auf die landwirtschaftlich genutzten Felder, versuchen mit den Arbeiter*innen zu sprechen, über ihre Probleme und Anliegen zu erfahren, unser Angebot zu unterbreiten. Parallel dazu informieren wir die heimische Bevölkerung über die (miesen) Lebens- und Arbeitsbedingungen von Erntearbeiter*innen hierzulande – über Vorträge, Veranstaltungen, Publikationen, Videoclips, Medienarbeit etc. Dass diese Ausbeutung vor ihrer Haustür passiert und nicht nur in Südspanien oder Italien, also in der Ferne, das schockiert viele Leute noch immer.

Flavia Matei: Die Organisation DREPT ist eine selbstorganisierte Gruppe von rumänischen 24-Stunden-Personenbetreuer*innen und Aktivist*innen, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Auf Deutsch heißt das Wort DREPT „Recht“ – weil Rechte und Gerechtigkeit das sind, was in dieser Branche fehlt und wofür wir kämpfen. Im August 2020 ist DREPT als gemeinnütziger Verein errichtet worden. Allerdings fordern das Kernteam bzw. die 24-Stunden-Personenbetreuer*innen und die Aktivist*innen bereits seit vielen Jahren bessere Arbeitsbedingungen und ein faires Arbeitsrecht.

Die Gruppe entstand direkt aus der 24-Stunden-Betreuungs-Community, aus der Not und aus der Verzweiflung heraus und um strukturelle Bedingungen herzustellen, die besser vor Ausbeutung schützen. Die Betreuer*innen, die Teil dieser Branche sind, konnten ihre Augen nicht länger vor dem Missbrauch, dem ihre Kolleg*innen ausgesetzt sind, verschließen. Und so haben sie begonnen, sich zu organisieren: am Anfang informell, innerhalb ihrer Community, als Kolleg*innen auf die Straße gesetzt wurden, als sie von Vermittlungsfirmen ausgenutzt wurden oder, als sie unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht wurden. Spenden wurden gesammelt, Notfahrten organisiert, Aufrufe gestartet. Aber ab einem gewissen Punkt war das nicht mehr genug, eine formelle und mutige Vertretung war höchst notwendig. So ist es zur Gründung von DREPT gekommen.

Unsere Hauptangebote bestehen aus Aufklärungsarbeit über die Rechte und Tätigkeiten der Betreuer*innen, aber auch individuelle Beratung und Unterstützung, Krisenintervention, Pressearbeit und politischem Lobbying. Wir fordern in erster Linie eine Form von Anstellung für alle migrantischen 24-Stunden-Personenbetreuer*innen und sehen das als einzige Lösung, um die derzeit vorherrschende Scheinselbständigkeit zu durchbrechen. Dieses Jahr hat sich die Solidarität der Betreuer*innen auch über nationale Grenzen ausgeweitet: Wir haben uns mit den slowakischen Kolleg*innen aus der Organisation Initiative24 zusammengeschlossen und gemeinsam stehen wir vor der Gründung eines Dachverbands für die Interessensvertretung aller migrantischen Betreuer*innen – der IG24. Unser Kampf ist in Österreich, aber unsere Solidarität ist international.

AH: Flavia, ihr konfrontiert viele Behörden und die Politik in Österreich, könntest du davon erzählen, welche Forderungen da jeweils gestellt werden?

FM: Die 24-Stunden-Personenbetreuer*innen müssen als selbständige Ein-Personen-Unternehmen arbeiten, sie werden also nicht angestellt. Das ist aber in Wirklichkeit eine deutliche Scheinselbständigkeit, denn die Betreuer*innen sind meistens vollständig von Vermittlungsfirmen oder von den betreuten Personen und deren Angehörigen abhängig. Sie sagen ihnen, wann sie wo zu arbeiten haben. Der Sitz ihres Gewerbes ist die Adresse der betreuten Personen. Deswegen kann ihr Gewerbe auch gelöscht werden, wenn sie gerade keine Arbeit haben. Die Organisationsverträge mit den Vermittlungsagenturen beinhalten verpflichtende Inkasso-Vollmachten für die Betreuer*innen. Vermittlungsfirmen übernehmen so gleich die gesamte Abrechnung für die Betreuer*innen – oft inklusive der Zahlung der Sozialabgaben. Das alles hat mit Selbstständigkeit eigentlich nichts mehr zu tun.

Weil sie aber offiziell selbstständige Ein-Personen-Unternehmen sind, gelten für sie auch die Schutzstandards des Arbeitsrechts nicht: Es gibt keine gewerkschaftliche Vertretung, keinen kollektivvertraglichen Mindestlohn, keinen bezahlten Urlaub und auch keinen bezahlten Krankenstand. Die Pensionen sind niedrig und die Betreuer*innen von Altersarmut gefährdet: Nach zehn Jahren in der Branche der 24-Stunden-Personenbetreuung erhalten die Betreuer*innen eine Pension von ca. 100 Euro pro Monat. Die Betreuer*innen werden als selbstständige Ein-Personen-Unternehmen theoretisch von der Wirtschaftskammer (WKO) vertreten. Die Wirtschaftskammer vertritt aber auch alle anderen Unternehmen – wie z. B. die Vermittlungsagenturen. Wenn es also Konflikte zwischen Personenbetreuer*innen und Vermittlungsfirmen gibt, wie es häufig passiert, entsteht ein offensichtlicher Interessenskonflikt.

Unterm Strich gibt es in Österreich also keine staatlichen Institutionen, die die Interessen der Betreuer*innen vertreten. Weil sich durch diese Situation keine staatliche Stelle um die 24-Stunden-Betreuer*innen kümmert, sind sie eben so leicht ausbeutbar. Und es liegt im Interesse der Vermittlungsfirmen, des Staats und der österreichischen Gesellschaft, dass die 24-Stunden-Betreuer*innen ausbeutbar bleiben. Wenn die Betreuer*innen arbeitsrechtliche Gerechtigkeit bekommen würden, wäre die Betreuung von Senior*innen nicht mehr leistbar. Sie ist nur dann leistbar, wenn migrantische Betreuer*innen zwei bis vier Euro pro Stunde bekommen und keine soziale Absicherung haben.

AH: Sónia, welche Beschäftigungsverhältnisse gibt es für Erntehelfer*innen? Sezonieri arbeitet auch mit der Gewerkschaft zusammen. Was bedeutet diese Zusammenarbeit?

SM: Sezonieri ist eine sozialpolitische Kampagne der Gewerkschaft PRO-GE für Nicht-Mitglieder – die PRO-GE ist die Produktionsgewerkschaft im Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und die zuständige Gewerkschaft für die Landwirtschaft. 2014, als die Kampagne von der PRO-GE gegründet wurde, wurden NGOs und Aktivist*innen ins Boot geholt, denn Saisoniers sind keine potentiellen Mitglieder und eine für die Gewerkschaft schwer erreichbare Gruppe. Da funktionieren die herkömmlichen Strategien einer österreichischen Gewerkschaft nicht. Erntearbeiter*innen arbeiten sehr viele Stunden, können die deutsche Sprache nicht und haben große Skepsis gegenüber Gewerkschaften (schlechte Erfahrungen in den Herkunftsländern, Unwissen über Interessensvertretungen in Österreich).

Daher braucht es einen anderen, einen aktiven Zugang: auf die Felder fahren, mehrsprachige Kenntnisse, politische Arbeit. Das macht die Sezonieri-Kampagne aus: unterschiedliche Kompetenzen kommen zusammen. Die Gewerkschaft hat das rechtliche Wissen, die Infrastrukturen, die Aktivist*innen das Engagement und andere Mittel, um die Leute zu erreichen, die NGOs – UNDOK (Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender), LEFÖ (Beratung, Bildung und Begleitung für Frauen) und MEN VIA (Opferschutz und Unterstützung für Männer, die von Menschenhandel betroffen sind) – wiederum das fachspezifische Wissen.

Generell sind die Beschäftigungsverhältnisse im Erntesektor geregelt. Die Löhne sind zwar zu niedrig, aber an sich sind die gesetzlichen Mindesstandards relativ gut (im Vergleich zu anderen Ländern). Das Problem ist, dass sie in der Regel nicht eingehalten werden. Sich dagegen wehren, ausstehende Ansprüche einfordern, das tun die wenigsten, weil sie sehr unter Druck stehen, Angst haben den Job zu verlieren und im Übrigen kaum Zeit haben, um darüber nachzudenken, sich damit zu beschäftigen (300 Arbeitsstunden in einem Monat sind nicht selten). Auch hier gibt es zwei „Klassen“: Erntearbeiter*innen aus Rumänien und Bulgarien, beispielsweise, die einen europäischen Pass haben und somit einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt in Österreich, stehen nicht so unter Druck wie Nicht-EU-Bürger*innen, die eine Beschäftigungsbewilligung für maximal sechs Monate bekommen, gebunden an den Betrieb, d.h. sie dürfen keinen anderen Job machen.

AH: Im Bereich der Pflege wird von einem „Pflegekollaps“ bzw. „Pflegenotstand“ gesprochen, im Bereich der Nahrungsmittelindustrie davon, dass Österreich auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist. Diese Narrative sind Bestandteil einer Bevölkerungspolitik, die immer zuerst den eigenen, nationalen, Notstand ausrufen muss, um in weiterer Folge rassistische Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Darüber hinaus ist die Ideologie der körperlichen Pflege durch Ernährung und Dienstleistung über viele Jahrzehnte in das Selbstbild der Österreicher*innen eingeflossen, viele Forderungen nach Versorgung werden aus einem Selbstverständnis heraus gestellt, das rassistisch fundiert ist.

Wenn das Wohlbefinden des Körpers und der Seele im Vordergrund steht, wird damit auch gleichzeitig Hierarchie erzeugt. Sichtbar ist das beispielsweise daran, dass in Österreich niemals erwähnt wurde, ob es Pflegebedarf in Rumänien gibt, oder wie es der Ernte in osteuropäischen Ländern geht. Es wird immer davon ausgegangen, dass der nationale, österreichische Körper versorgt werden muss. Österreich ist jedoch nicht die bedürftige Seite der globalen Wirtschaft, sondern ganz im Gegenteil federführend in der ungerechten Verteilung von Arbeit und Wohlstand entlang nationaler Grenzen. Beispielsweise sind nicht wenige der Großkonzerne, die durch die Begünstigungen der EU-Politik zu neuen Großgrundbesitzern in Osteuropa geworden sind und die Agrarindustrie dominieren, österreichisch. Ich habe mir oft gewünscht, dass diese Umkehrung des Diskurses mal in Frage gestellt wird, dass der globale Zusammenhang von Arbeit und Produktion mit all seinen Konsequenzen analysiert wird, doch das ist zumindest in den österreichischen Medien nicht passiert. Könnt ihr etwas aus eurer Erfahrung über Machtverhältnisse in der Ernte- und Pflegearbeit sprechen?

SM: Die Machtverhältnisse in der Erntearbeit lassen sich am besten mit einem Beispiel veranschaulichen: Alina (Name geändert) war in Rumänien Kleinbäuerin. Ihre Familie musste den Hof aufgeben, als europäische Produkte – darunter auch österreichische – zu billigen Preisen in den rumänischen Markt eingeführt wurden. Sie hat die Felder an einen Großinvestor aus Österreich verkauft. Als EU-Bürgerin hat sie in Österreich freien Zugang zum Arbeitsmarkt und braucht keine Beschäftigungsbewilligung. Trotzdem kann sie von dem niedrigen Lohn in der Ernte in Österreich nicht leben (ca. sechs Euro Stundenlohn), daher hat sie nach wie vor ihren Lebensmittelpunkt in Rumänien. Wie verrückt ist das: Sie erntet in Österreich genau die Produkte, die ihre Existenzgrundlage in ihrem Heimatland zerstört haben!

Die Argumentation der Produzent*innen und ihrer Interessensvertretungen ist einfach: Die Erntehelfer*innen verdienen doch hierzulande gutes Geld für ihre Verhältnisse, in ihrem Heimatland würden sie viel weniger verdienen. Doch so werden die Arbeiter*innen in der Landwirtschaft als reine „Arbeitskräfte“ wahrgenommen – und nicht als Menschen. Als Gegenargumentation werfe ich oft eine Frage auf: Wäre es okay, wenn Österreicher*innen, die in der Schweiz arbeiten (was im Westen Österreichs üblich ist), weniger verdienen würden als Schweizer*innen, nur weil sie in Österreich weniger verdienen würden als in der Schweiz?

Die Migrationspolitik in Österreich ist so restriktiv, sie führt dazu, dass die Macht beim Pass ist. Welchen Pass mensch hat, bestimmt welche Rechte mensch hat, welche nicht, zu welchen Dingen Zugang, zu welchen nicht. Nicht-EU-Bürger*innen haben es noch schwieriger als Alina, sie bekommen eine Beschäftigungsbewilligung, die an einen Betrieb gebunden ist, sie dürfen Betrieb/Branche nicht wechseln. Das bedeutet, sie sind noch prekärer, stehen noch mehr unter Druck.

Nicht nur in der Ernte ist dieser krankhafte Nationalismus, ist der Rassismus zu spüren. Wenn ich öffentlich über die miesen Arbeitsbedingungen von Erntearbeiter*innen in Österreich spreche, merke ich oft, es steht mir als Migrantin nicht zu, Österreich zu kritisieren, schlecht über Österreich zu sprechen. Das merke ich bei Vorträgen, in den Reaktionen von vielen „Einheimischen“. Migrant*innen haben brav und dankbar zu sein, nicht kritisch und schon gar nicht politisch. Und ich gehöre zu den „guten“ Migrant*innen, aus einem europäischen westlichen Land, da bekomme ich bei weitem weniger zu spüren als osteuropäische Migrant*innen. Und das nur weil ich innerhalb der Festung Europa geboren bin, weil ich einen portugiesischen Pass habe, was ein Zufall ist.

Hinzu kommt, dass Kleinbäuerin/bauer nicht gleich Großbäuerin/bauer ist. Die Marktkonzentration in Österreich ist so groß (drei Handelsketten dominieren 85 % des Marktes), dass die Produzent*innen sehr abhängig sind von ihren Abnehmer*innen, vom Handel. Dieser drückt die Preise nach unten, nur die großen sind konkurrenzfähig, können ihre Produkte so „billig“ verkaufen. Seit vielen Jahren werden einige Höfe immer größer, die kleinen stehen unter Druck und erwirtschaften Minus bis sie irgendwann aufgeben, den Hof sperren müssen. Der Trend ist also: wachsen oder weichen. Die idealisierte Vorstellung, in Österreich gäbe es keine industrielle Landwirtschaft, ist ein Mythos, es stimmt einfach nicht. Das Bild von Familienbetrieben, damit werben Gemüsebäuer*innen gerne. Doch in Wahrheit sind es oft Betriebe, ausgestattet mit der modernsten Maschinerie, die exportieren und sehr wohl Lohnarbeiter*innen haben – nämlich Erntearbeiter*innen ausschließlich aus dem Ausland.

FM: Du hast völlig Recht. Der Kapitalismus stützt sich auf Rassismus und Hierarchien, die auf Rassismus beruhen. Und darauf, die anderen als irgendwie unterlegen, weniger wertvoll, weniger relevant zu definieren – oder komplett zu ignorieren. Das ist seit Beginn dieser besonderen, extrem zerstörerischen Produktionsweise der Fall, und es wird so bleiben, bis wir sie endlich durch etwas Menschlicheres ersetzen. Auch bei den Arbeitsverhältnissen der 24-Stunden-Betreuer*innen nimmt das gegenwärtig eine besonders schädliche Form an. Einerseits werden die Betreuer*innen als bloße Ware betrachtet, als Träger*innen von zu kaufender und zu verkaufender Arbeit, und nicht als Menschen mit Bedürfnissen, Gefühlen, Verwandtschaftsnetzwerken, die sie brauchen und auf sie angewiesen sind.

Das haben wir während der Pandemie ganz klar gesehen: Während alle anderen aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben, Abstand zu halten und sich vor Ansteckungen zu schützen, wurden 24-Stunden-Betreuer*innen wie Waren mit Charterflügen oder Korridorzügen über mehrere Grenzen hinweg transportiert. Für die mit den Risiken verbundenen Kosten waren aber sie, die Betreuer*innen, selber verantwortlich. Die Situation war besonders schwer für die Kolleg*innen, die über den Zugkorridor zwischen Rumänien und Österreich gereist sind. Nachdem sie wegen des Lockdowns monatelang nichts verdient haben, mussten sie, als sie zurück zur Arbeit nach Österreich fuhren, einen Tag in einem Hotel verbringen und sich testen lassen. Die Kosten dafür mussten sie meist selber tragen. Wenn aber jemand positiv getestet worden wäre, dann hätten die Betreuer*innen laut der gesetzlichen Regelungen auch die Quarantänekosten selber tragen müssen. Ein ganzes Gehalt hätten sie dafür ausgeben müssen, zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Situation ohnehin höchst prekär war.

Ja, diese „Schlüsselkräfte“ wurden medial und gesellschaftlich beklatscht – aber de facto im Stich gelassen. Wenn diejenigen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen, gezwungen wären, Betreuer*innen als Menschen zu sehen, müsste die gesamte fragwürdige moralische Ordnung dieser Einrichtung zusammenbrechen. Auf der anderen Seite werden gerade die rumänischen Betreuer*innen als besonders gut geeignet für Pflegeberufe dargestellt. Es wird von ihnen erwartet, widerstandsfähig zu sein, immer bereit schwere Arbeit zu verrichten, und, am Schlimmsten von allem, bereit, sich für das Wohl anderer zu opfern – mit all den, meistens eigenen, Kosten, die dazugehören. Das ist der typische Mechanismus, durch den die Tatsache, dass Pflege- und Betreuungsarbeit eben Arbeit ist, verschleiert wird. Sie wird in Liebe umgedeutet. Aber Liebe ist auch Arbeit. Möglicherweise die härteste Arbeit. Und sie braucht Gerechtigkeit!

AH: „Liebe ist auch Arbeit“, wie ist das gemeint?

FM: Wir stellen die Reproduktionsarbeit in den Vordergrund, also die Kindererziehung, die Pflege von Großeltern und Senior*innen, die Arbeit im Haushalt, die Haushaltshilfe, eine höchst feminisierte Arbeit und eine Arbeit, die meistens Frauen – selbstverständlich unentgeltlich – zugeteilt wird. Das ist Arbeit, die mit Liebe und Nähe und Familie verbunden wird. Aus dieser Arbeit entstehen Beziehungen und Gefühle. Aber es ist Arbeit und sie soll definitiv als Arbeit anerkannt werden.

Dieses Thema ist besonders in der Pflegearbeit und Personenbetreuung von Senior*innen von großer Bedeutung. Es wird von den Kolleg*innen in dieser Branche oft erwartet, dass sie gegenüber ihren Klient*innen eine mütterliche Rolle einnehmen. Aber diese wichtige und enge Beziehung zu den Klient*innen wird oft ausgenutzt, um die Kolleg*innen in prekären Arbeitsverhältnissen auszubeuten und um zusätzliche, unbezahlte Arbeit anzubieten. So war es zum Beispiel am Beginn des Lockdowns: Die Vermittlungsfirmen haben emotionalen Druck ausgeübt, damit die Betreuer*innen länger an ihren Arbeitsplätzen bleiben. Aber sie wollten alle nach Hause zu ihren Familien fahren, um die sie sich große Sorgen gemacht haben. Sie waren auch am Ende ihrer Kraft. Es wurde ihnen oft vorgeworfen, dass sie „unmenschlich” oder „gefühllos” wären, weil sie ihre Klient*innen im Stich lassen wollen, wenn diese sie am meisten brauchen. Das hat uns gezeigt wie die Reproduktionsarbeit für ökonomische Interessen ausgenutzt werden kann. Und wie schutzlos Frauen vor solchen Strategien sind. Deswegen ist für uns das Thema der Reproduktionsarbeit zentral. Wenn wir Liebe bzw. Reproduktionsarbeit als echte Arbeit anerkennen, dann erkennen wir auch an, dass die Mütter, die Pfleger*innen, die Betreuer*innen und alle Frauen in diesen Bereichen faire Bedingungen, faire Entlohnung und Schutz vor Missbrauch verdienen!

AH: Sowohl in der Nahrungsmittelproduktion als auch im Pflegebereich werden Situationen des Missbrauchs und der Ausbeutung produziert. Ich führe das darauf zurück, dass Bereiche, in denen affektiv gearbeitet wird, immer schon als Basis der kapitalistischen Produktion verstanden wurden und nicht als wertschöpfende, produktive oder eigenständige Bereiche. Die Zustände deuten auch darauf hin, dass die Arbeitsbedingungen eigentlich kein Zufall sind, sondern der Herstellung einer bedingungslosen, uneingeschränkten Verfügbarkeit von Menschen als Arbeitskraft dienen. 24-Stunden-Betreuer*innen wurden eingeflogen, aber auch Erntehelfer*innen – auch sie hat man dem Risiko einer Ansteckung mit Covid-19 einfach ausgesetzt. Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Ausbreitung unter 24-Stunden-Betreuer*innen und Erntehelfer*innen hat gezeigt, wer als bedürftig eingestuft wird und wer auf den eigenen Schutz, d.h. auf Distanz, zu verzichten hat. Wie habt ihr die Politik der Nähe und Distanz erlebt?

SM: Was das Einfliegen von Menschen für die Erntearbeit betrifft, waren wir zwiespältig: Einerseits waren die Menschen ohne Einkommen in den Herkunftsländern froh, dass sie einfliegen konnten und zu Arbeit und Einkommen kommen konnten, sonst hätten sie kein Einkommen gehabt. Denn obwohl sie jedes Jahr nach Österreich kommen, als Saisoniers, haben sie jedes Jahr einen neuen Arbeitsvertrag, d.h. viele saßen in ihren Herkunftsländern fest, mit Beschäftigungsbewilligungen in der Hand, aber konnten nicht zum Arbeiten kommen und hatten auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Entschädigung für den Verdienstverlust. Andererseits wurden die Hygienebestimmungen, laut Berichten von sehr vielen, in den Höfen nicht eingehalten, zudem bekamen viele für die Zeit in Quarantäne nicht bezahlt.

Plötzlich war die Rede von „qualifizierten Arbeitskräften“, von „Schlüsselkräften“, die bisher immer als Unqualifizierte galten, um die niedrigen Löhne zu rechtfertigen. Eine Heuchelei. Sie wurden also nicht besser behandelt, weil sie so sehr gebraucht wurden, zum Teil sogar schlechter. Einige „Einheimische“, die als Erntearbeiter*innen tätig waren, Studierende vor allem, berichteten uns, dass sie eher im Lager, also in den guten Jobs, beim Gemüsewaschen und Verpacken gearbeitet haben, während die eingeflogenen Kolleg*innen aus Rumänien und der Ukraine am Feld schuften und die harte Arbeit machen mussten. Dabei verdienten sie, die Studierenden, mehr als die Migrant*innen. Davon haben wir von mehreren, in mehreren Bundesländern, erfahren. Sie berichteten auch von Corona-Schutzmaßnahmen, die nicht eingehalten wurden, weder in den Lagern noch am Feld, es erreichten uns Fotos, die dies beweisen: kein Abstand, keine Schutzmasken.

Corona hat Erntearbeiter*innen nicht sichtbar gemacht. Im Gegensatz zu den 24-Stunden Betreuer*innen sind Erntearbeiter*innen sehr wohl und immer schon öffentlich exponiert, auch vor Corona. Sie schuften in Glashäusern (sehr viele in Wien) aber vor allem auf offenen Feldern. Sie waren auch vorher bereits sichtbar: auf Feldern neben Autobahnen, Bundesstraßen, Zugschienen … Viele haben sie nicht sehen wollen oder wollen sie immer noch nicht sehen. Diese egoistische, nationalistische Sicht (Kurz hat auch immer gesagt „Danke, Österreicher und Österreicherinnen“) geht Hand in Hand mit dem Hype um regionale Produkte. Ganz nach dem Motto: Es geht um die eigene Gesundheit und nicht um die der „Anderen“, also der „Ausländer*innen“. Hauptsache bio und regional, ob die Lebensmittel auch fair sind, ob die Corona-Präventionsmaßnahmen eingehalten wurden, das spielt keine wichtige Rolle.

FM: Während der Corona-Krise hat sich die Situation der 24-Stunden-Betreuer*innen nochmal deutlich verschlechtert. Am Anfang der Krise ist ein Teil der Betreuer*innen in Rumänien stecken geblieben, weil die Grenzen dicht waren. Weil die 24-Stunden-Betreuer*innen als Ein-Personen-Unternehmen arbeiten müssen, hatten sie in dieser Zeit kein Einkommen. Das war eine ökonomische Katastrophe für sie. Zugang zu dem Härtefallfonds hatten sie auch nicht, da die Voraussetzungen migrantische Arbeitskräfte ausgeschlossen haben: Formulare nur in der deutschen Sprache, österreichisches Konto, Steuernummer. Und das in einer Branche, in der so schlecht bezahlt wird, dass die meisten Betreuer*innen die Steuergrenze nicht erreichen und dadurch nicht steuerpflichtig sind. Auf der anderen Seite gab es die Betreuer*innen, die in Österreich waren und auf die enormer Druck ausgeübt wurde, länger zu bleiben und oftmals zehn Wochen am Stück zu arbeiten – jeden einzelnen Tag, ohne einen einzigen Tag Pause. Und rund um die Uhr. Sie hatten keine andere Wahl, als weiterhin ihre Arbeit zu machen. Je nach der genauen Erkrankungssituation des/der Klient*in müssen 24-Stunden-Betreuer*innen oft auch mehrmals pro Nacht aufstehen, um den/die Klient*in zu versorgen. Diese extrem lange Einsatzzeit war für die Betreuer*innen zermürbend.

Diese Zeit war auch für uns bei DREPT besonders schwierig: Wir wurden täglich von Kolleg*innen über Telefonate oder Nachrichten kontaktiert, die an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangt waren, die zusammengebrochen sind. Sie waren von ihrer Arbeit völlig erschöpft, sie waren weit weg von ihren Familien und die Coronafälle sind überall in der Welt drastisch angestiegen. Die Angst, die Einsamkeit und die Unsicherheit waren bei allen sehr groß. Für sie haben wir uns schnell mobilisiert und in Partnerschaft mit anderen österreichischen Vereinen psycho-soziale Beratung in rumänischer Sprache organisiert.

Von dem Staat kam sehr wenig. Der Bleib-Da-Bonus, also die 500 Euro (brutto!), die dieser Gruppe von Betreuer*innen in allen Bundesländern angeboten wurde, kam mit denselben strukturellen Problemen: Die Formulare konnten nur gemeinsam mit den betreuten Personen oder mit ihren Angehörigen ausgefüllt werden. Diese strukturellen Prozeduren haben für die Betreuer*innen weitere Abhängigkeiten von ihren betreuten Personen oder von den Vermittlungsagenturen als Zwischenstelle gebildet. Viele von diesen Betreuer*innen schreiben uns bis heute, dass sie die Boni noch nicht erhalten haben. Alle diese Probleme waren schon vor Corona da, aber die Corona-Krise hat sie nochmal deutlicher sichtbar gemacht. Österreich hat seine „Schlüsselkräfte“ nicht geschätzt und auf keinen Fall ausreichend unterstützt.

AH: Mir scheint, dass sich die Situation seit der EU-Osterweiterung zugespitzt hat. Die heutigen Betreuer*innen sind meistens Frauen, die ihre beruflichen Positionen aufgrund von post-sozialistischen Privatisierungen verloren haben. Es handelt sich um Frauen, die weitaus höhere Qualifikationen hatten, von ihrer sozialen und professionellen Degradierung profitieren Länder wie Österreich massiv. Es lässt sich also ein ähnliches Phänomen wie in der Agrarindustrie beobachten, die die Menschen landlos und arbeitslos gemacht hat. Gibt es Parallelen zur Geschichte der Gastarbeiter*innen in Österreich, die ja auch alle aus verarmten Ländern kamen, in den sogenannten „Hilfsarbeiten“ beschäftigt waren und der rassistischen Gesetzgebung unterworfen waren (siehe Ausländerbeschäftigungsgesetz aus den 1970er-Jahren)?

SM: Saisonarbeit ist die neue Gastarbeit – es ist genau dasselbe, nur viel restriktiver als damals. Unternehmen haben damals Druck gemacht, damit das Rotationsprinzip beendet wird (daher das Wort „Gastarbeit“, jedes Jahr war es so geregelt, dass nach einem Jahr die Unternehmen neue „Gastarbeiter*innen“ beschäftigen). Jetzt ist das viel restriktiver: Eine Erntearbeiterin aus der Ukraine, die seit 20 Jahren für sechs Monate nach Österreich zum Schuften kommt, auch zum selben Betrieb, unterschreibt jedes Jahr, jede Saison, einen neuen Arbeitsvertrag. Obwohl sie seit 20 Jahren im selben Betrieb arbeitet! 60 Milliarden Euro an Agrarförderungen pumpt die EU in die Landwirtschaft, das ist der größte Fördertopf der EU. Dabei werden soziale Kriterien in der GAP, der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU, gar nicht berücksichtigt, sie sind überhaupt kein Thema in der GAP. Und die Agrarpolitik ist veraltet. Es war in den 1950er-Jahren sinnvoll die Förderungen je nach Fläche zu vergeben, da war Lebensmittelknappheit und es musste viel produziert werden. Heute verstärkt sich der Trend: wachsen oder weichen.

AH: Mir stellt sich aber auch die Frage, inwieweit die koloniale Politik der Gegenwart vom innereuropäischen Kolonialismus der Habsburgermonarchie zehrt, denn auch hier war die Arbeitsteilung eine rassistische und geschlechtsspezifische. Während der Westen industrialisiert wurde, wurden die Rohstoffe und die Landwirtschaft in den sogenannten „Kronländern“ ausgebeutet. Bis heute ist man der Auffassung, dass die Monarchie keine Kolonialmacht war, obwohl die Ausbeutung ihrer unmittelbaren Umgebung viele Merkmale von Kolonisierung trägt. In den Zentren, also in Wien und in kleinerem Ausmaß in Budapest, mussten Frauen aus dem Osten der Monarchie im bürgerlichen Haushalt oder in den ersten Fabriken arbeiten. Es gab Zugangsbeschränkungen zu Bildung, eingeschränkte Eigentumsrechte und keine Perspektiven auf Lebensveränderung für die große Mehrheit der nicht-deutschsprachigen Bevölkerung.

Die Diskurse des Ost-West-Verhältnisses sind scheinbar schon lange gefallen, aber die Geografie der neuen kolonialen Formen konstruiert und verfestigt sich nach dem alten Vorbild, zum Beispiel wenn die Misere der Erntehelfer*innen mit dem Recht der Bauern auf Knechtschaft gerechtfertigt wird, die in ländlichen Regionen de facto bis ins 20. Jahrhundert existierte. Diese und ähnliche „Erinnerungen“ an die koloniale Zeit der Habsburgermonarchie sind keineswegs Zufall, sie formieren die symbolische Haltung zu den unkontrollierten und willkürlichen Produktionsverhältnissen einer neoliberalen Gesellschaft.

In Österreich hat der Druck rechter Regierungen auch die Arbeitsinspektionen und Produktionskontrollen geschwächt, sodass das Einhalten von Arbeitsregelungen und damit der Schutz von Arbeiter*innen de facto nicht mehr existiert. Damit transportiert man die Auffassung, dass Arbeit keine Angelegenheit der Gesellschaft mehr ist, sondern eine rein private Abmachung. Passend dazu erleben wir im Moment auch eine erneute Glorifizierung der kolonialen Lebensart mit allem was dazugehört: die geadelte Familie, das Leben im Palast und das Dienstbot*innenverhältnis passen sich nahezu nahtlos in die Wirklichkeit der Gentrifizierung und des delivery-life ein. Eine solche Gesellschaft applaudiert auch, statt die Bezahlung zu erhöhen …

SM: Genau. Applaus bringt den Leuten überhaupt nichts, es hat sowas Zynisches an sich. Ein Applaus von den Balkonen, während die Leute am Feld bei jedem Wetter, in der prallen Sonne oder unter Regen für wenige Euro hart schuften – das ist so zynisch. Es sind klare neukoloniale Zustände. In Rumänien werden ganze Wälder, auch Naturschutzgebiete, massiv und zum Teil illegal abgeholzt, riesige Flächen von Großinvestoren aus reichen europäischen Ländern für industriellen Anbau abgekauft, während die Leute auswandern müssen, weil ihre Existenzgrundlage dort zerstört wird. Und die österreichischen Großbauern werden sehr reich auf Kosten von billigen „Arbeitskräften“ aus diesen Ländern, wie man am Beispiel Rumäniens sieht. Bei einer Gerichtsverhandlung vor einigen Jahren hier in Tirol, zwei rumänische Erntearbeiter gegen einen Großbauern, der sie jahrelang in großem Stil um ihren Lohn betrogen hat, miese drei Euro in der Stunde bezahlt hat, weit unter dem Kollektivvertrag, sehr viel Geld für Unterkunft und Verpflegung von ihrem Lohn abgezogen hat, sie sogar unmenschlich behandelt hat (Beschimpfungen waren an der Tagesordnung), sagte nach dem Urteil vor Gericht, als Abschlusswort: „Ich bin sehr enttäuscht. Sie waren für mich wie eine Familie“. Diese Knechtenmentalität beobachten wir bei vielen Landwirt*innen in Österreich. Nicht einmal nach einem Gerichtsurteil, bei dem sie mehrere Tausend Euro nachzahlen müssen, zeigen sie Einsicht dafür, dass sie Arbeiter*innen wie „Leibeigene“ behandelt haben. Ich denke, dass sie das wirklich nicht sehen, es ist für sie einfach selbstverständlich. Solche Zustände sind möglich, weil das Arbeitsinspektorat und die Finanzpolizei in allen Bundesländern unterbesetzt sind, es wird zu wenig kontrolliert und wenn, werden die Kontrollen der Arbeitsinspektion oft vorangekündigt, das ist erlaubt. In Tirol gibt es einen einzigen Arbeitsinspektor für die Forst- und Landwirtschaft, einen einzigen Mitarbeiter für ca. 1.200 Betriebe – das sind 4.000 Beschäftigte!

FM: In der Tat, außer dass die Legitimität der Unterdrückung nicht mehr wie in der Vergangenheit durch adliges Blut oder eine Art Mission von Gott, sondern durch Geld begründet wird. Wer Geld hat, gehört zu denen, die die Arbeit anderer kaufen können. Um sicherzustellen, dass auch wir in Österreich bereit sind, unsere Arbeitskraft billig genug zu verkaufen, sorgt das Kapital dafür, dass die Dienstleistungen, die uns produktiv halten, noch billiger werden. Deswegen ist die Pflegearbeit, die von unseren Familienangehörigen benötigt wird, sehr, sehr schlecht bezahlt. Wir können uns eine*n 24-Stunden-Betreuer*in leisten. Und so kann das Kapital mit unserer Arbeit einen schönen Gewinn erzielen – wir verlangen auch keine Gehaltserhöhung. Wir haben viele Kolleg*innen, die seit drei, fünf oder sieben Jahren keine Gehaltserhöhung bekommen haben. Stattdessen bieten wir den Betreuer*innen Applaus und damit ist alles wieder richtiggestellt. Was im Grunde eine andere Art ist, zu leugnen, dass Betreuung echte Arbeit ist, dass die Betreuer*innen Menschen sind, die sich regenerieren und ihre Familien ernähren und kleiden müssen, und nicht bloße Diener*innen, die unseren privilegierten Lebensstil unterstützen. Was ich meine, ist, dass wir alle gemeinsam gegen das Kapital agieren müssen. Es sind die ökonomischen Interessen, die die primären Unterdrückungen und die Feindschaft zwischen den verschiedenen Arten von Arbeit schaffen. Aber wenn wir zusammenkommen, über Branchen und Grenzen hinweg, unabhängig von unserer gemeinsamen Geschichte von Imperium und Peripherie, oder vielleicht gerade trotz dieser Geschichte, dann kann vielleicht schon bald etwas sehr Gutes geschehen.

Ana Hoffner ex-Prvulovic* ist Künstler*in, Forscher*in und Autor*in. Sie* arbeitet sowohl in als auch über zeitgenössische Kunst, kunstbasierte Forschung und kritische Theorie. Sie* hat 2014 das „PhD in Practice“-Programm an der Akademie der bildenden Künste Wien abgeschlossen. Ihr* Buch The Queerness of Memory ist 2018 bei b_books, Berlin erschienen.
anahoffner.com

Sónia Melo ist Journalistin und Mitbegründerin der Sezonieri-Kampagne. Seit 2016 ist sie Projektmitarbeiterin am Zentrum für Migrant_innen in Tirol – ZeMiT, zuständig für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit und die Abwicklung von Projekten (Veranstaltungen, Ausstellungen, Stadtspaziergänge) zu Migration. Sie war Mitkuratorin der Ausstellung Hier zuhause – Migrationsgeschichten aus Tirol im Tiroler Volkskunstmuseum 2017.
sezonieri.at

Flavia Matei hat Architektur an der TU Wien abgeschlossen. Sie ist Universitätsassistentin an der Kunstuniversität Linz. Seit vier Jahren unterstützt sie die Selbstorganisation der in Österreich tätigen rumänischen 24-Stunden-Personenbetreuer*innen. Gemeinsam mit ihnen gründete sie den Verein DREPT – Interessenvertretung der (rumänischen) 24-Stunden-Betreuer*innen und den Dachverband IG24 – Interessengemeinschaft migrantischer 24-Stunden-Betreuer*innen.

  
 

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