Die autoritären Regierungen Osteuropas haben die Corona-Krise erwartungsgemäß als Vorwand missbraucht, um ihre Macht auszubauen, zu festigen und, wie im Falle Ungarns, das Verfassungssystem endgültig von seinem Elend zu erlösen. Für einen unbestimmten Zeitraum wird die alleinige Rechtsquelle nun der oberste Führer selbst sein, nämlich Herr Orbán. Wie langweilig.
In solchen Fällen stellen sich Menschen in den reicheren, saubereren und besser ausgestatteten Ländern gewöhnlicherweise die scheinheilige Frage, wie um alles in der Welt die Osteuropäer diesen nervigen Unsinn ertragen können.
Es ist eine Sache, dass Menschen überall dazu bereit sind, sich einer neuen Ordnung zu unterwerfen, die sich ohne Präzedenz in individuelle, sogar körperliche Freiheiten einmischt, die die Bewegungsfreiheit des Einzelnen und zwischenmenschliche Nähe reguliert, Arbeit verbietet und die Präsenz in öffentlichen Räumen regelt. In diesem scheinbar freiwilligen Gehorsam unterscheiden sich Osteuropäer kaum von allen anderen – und wenn doch, dann weil sie in der Regel weniger diszipliniert sind als die Menschen in den meisten westlichen Nationen.
Osteuropäerinnen und Osteuropäer protestieren nicht gegen den Verlust von Freiheiten, sie glauben ohnehin nicht an sie. Es geht nicht um die Heuchelei der bürgerlichen Ordnung, in der individuelle Freiheiten über Jahrhunderte hinweg dem Fehlen von sozialer Gerechtigkeit gegenübergestellt wurden. Das Problem geht tiefer.
Um sich selbst und die eigene Autonomie zu verteidigen, muss sich eine Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern auch als solche wahrnehmen. Doch osteuropäische Gesellschaften würden nicht davon träumen, sich selbst als civic community vorzustellen. Dies hat einen historischen Ursprung. In unserer rückständigen und engstirnigen Auffassung haben wir Osteuropäer nur eine einzige Erinnerung an eine solche Gemeinschaft, nämlich jene, die auf gemeinsamem Eigentum basiert. Nicht das „gemeinsame Eigentum an den Produktionsmitteln“ im strengen alt-marxistischen Sinne, sondern der gemeinsame Besitz an allem Möglichen. Das bedeutet, nicht nur die Fabrik, nicht nur die Kasernen, nicht nur die Universitäten, sondern auch die Familienwohnungen in den Siedlungen (äquivalent dazu der Plattenbau in der DDR und die Arbeitersiedlungen im Roten Wien), die Sommercamps, die Arbeitervereine, die Büchereien: also Arbeit und Freizeit, öffentlich und privat, sozial und persönlich – buchstäblich alles, was zählt.
Die civic community war aus Sicht der Osteuropäer von Bestand, als die Gemeinschaft selbst besaß und bestimmte, als sie die Räume zum Leben, Arbeiten und Zusammensein selbst schuf. Offensichtlich gefiel das nicht allen. Doch jene, die es nicht mochten, mochten Gemeinschaften ganz allgemein nicht. Als der (die Bezeichnung ist reichlich unpräzise) „Realsozialismus“ dazu aufgefordert wurde, sich allen anderen anzuschließen, gingen die Osteuropäer davon aus, dass die Politik – die für sie eine Frage des Engagements und der Mobilisierung war – insgesamt beendet sei. Denn ohne Gemeinschaft keine Politik. Individuelle Freiheit wiederum ist gleichbedeutend mit dem Primat und der Vormacht des Persönlichen.
Wenn ich mich über die Abschaffung der Rechtsstaatlichkeit, des Konstitutionalismus und dergleichen aufregen würde, dann würden die Osteuropäer mich in Bezug auf die Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten fragen: „Wart ihr nicht jene, die 1989 gesagt haben, dass der Staat dazu da ist, um uns vor seinen eigenen Interventionen zu schützen?“ Nur ist es jetzt nicht mehr der Staat, der sich einmischt, sondern das Virus. Die Verfassung war an Ort und Stelle notwendig, da keine civic community dazu in der Lage wäre, sich ohne ein solches Stück Papier zu verteidigen. Das geht nun mal nicht anders.
Es stimmt nicht, dass Osteuropäer sich nicht um Freiheit scheren. Sie tun es. Aber respektable Denker, von Aristoteles über Spinoza bis zu Hegel, haben sie gelehrt, dass Freiheit nicht viel ist ohne bürgerliche Macht.
Um sie nochmals von einer Idee der Freiheit überzeugen zu können, müssten die politischen Verführer eine Reihe von Fragen beantworten, allen voran zum gemeinsamen Eigentum und zur Fähigkeit der civic community, unser Leben – Arbeit, Sex, Freizeit, Bildung, Kunst und Schlaf – mit den Vorzügen auszustatten, die nur das Eigentum verleiht, wie uns sowohl der „Realsozialismus“ wie auch der reale Kapitalismus zweifellos beigebracht haben.
Abgesehen davon, dass ich als ehemaliger Dissident eine Antipathie für den »Realsozialismus« empfinde, glaube ich ganz ohne liberale Illusionen, dass im Kapitalismus (insbesondere dem Staatskapitalismus, der die »neoliberale Globalisierung« ablösen könnte, da Letztere in den vergangenen Jahren ohnehin zu funktionieren aufgehört hat) die Garantie gegen Willkürherrschaft nur eine Garantie auf dem Papier sein kann, sprich ein Text, der als unbestritten gilt, der die Herrschaft des Faktischen aufrechterhält und sie zugleich ablehnt – eine Herrschaft, bei der es bekanntlich um Geld und Feuerwaffen geht. Im Kapitalismus ist das Gesetz jener Ort, in dem Freiheiten ausverhandelt werden, ohne unmittelbare Berücksichtigung des Eigentums.Viele Osteuropäer glauben nicht, dass dies einen großen Unterschied macht. Und oftmals tut es dies auch nicht. Wie auch immer wir es bewerten, der willkürliche, gesetzlose Autoritarismus wächst – und mit ihm wächst die wahre Religion der Ungleichheit (Klasse, Rasse, Nationalität, Geschlecht, Alter, Gesundheit, Bildung, Wohnen und Verschmutzungsgrad). Der Sozialismus, ob real oder imaginiert, ist nirgends in Sichtweite. Allerdings müssen wir uns eingestehen, dass es auch der Konstitutionalismus nirgendwo ist. Ohne nur irgendeine Reaktion auszulösen, ist er einfach von der Bildfläche verschwunden. Worauf es jetzt ankommt, ist, dass es genug Masken, Handschuhe, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Akutbetten in Spitälern, Krematorien, Friedhöfe und Mülltonnen gibt. Niemand interessiert sich dafür, wo diese herkommen. Die civic community ist abwesend, der Staat funktioniert in einem Vakuum.
G. M. Tamás (*1948 in Kolozsvár/Cluj, Rumänien) ist ein ungarischer Philosoph und Publizist. 1978 musste er Rumänien verlassen. Er lehrte zwei Jahre lang an der Universität Budapest (ELTE), wurde dann aber entlassen, weil er illegale Schriften im Samisdat veröffentlicht (und offen unterzeichnet) hatte. In der Folge wurde er zu einer führenden Persönlichkeit der osteuropäischen Dissidentenbewegung. Von 1986 bis heute hatte Tamás zahlreiche Gastprofessuren und Fellowships inne (u.a. an der Central European University, Budapest/Wien; Oxford (Columbia); Woodrow Wilson Center, Chicago; Wissenschaftskolleg zu Berlin; University of Georgetown, New School in Yale; Institut für Wissenschaft vom Menschen, Wien). Er wurde 1990 als Abgeordneter ins Parlament gewählt und 1991 zum Direktor des Instituts für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ernannt. In den Jahren 1994 und 1995 trat er von beiden Posten zurück. Später verlor er seine Stelle an der Akademie der Wissenschaften, was öffentliche Proteste auslöste.
Derzeit ist er Gastprofessor im Fachbereich Soziologie an der Central European University, Wien/Budapest.
Die Vielseitigkeit der politischen Philosophie und Theorie Tamás‘ ist beeindruckend: Im Laufe seines Lebens verschoben sich seine Ansichten allmählich nach links. Heute rechnet man ihn zur Gruppe der Häretischen Marxisten.
Ausgewählte Publikationen: Essay on Descartes (1977), Törzsi fogalmak (Tribal Concepts, Collected Philosophical Papers, zwei Bände, 1999), L’Oeil et la main (1985), Les Idoles de la tribu (1989), Telling the Truth about Class (Socialist Register, Heft 42, 2006), Innocent Power (2012), Postfascism şi anticomunism (2014), Ethnicism After Nationalism (Socialist Register, Heft 52, 2015), Kommunismus nach 1989 (2015), K filosofii socializmu (2016), Komunizem po letu 1989 (2016).
G. M. Tamás‘ Beitrag The Nationality of a Virus ist in der Mai-Ausgabe des Tagebuch erscheinen. Tagebuch ist ein „linkes, unorthodoxes“ Magazin aus Wien, das sich kulturellen und politischen Themen widmet.