Leseempfehlungen … von Brot, Wein, Autos, Sicherheit und Frieden

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Buchtipp von Andrea Hubin

Andrea Hubin, Kunstvermittlerin der Kunsthalle Wien, las Hartmut Böhme, Albrecht Dürer: Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung (Fischer Taschenbuchverlag, 1989), und Catherine Malabou, Was tun mit unserem Gehirn? (Diaphanes, 2006).

Nun da die Ausgangsbeschränkungen und die Imperative zur Isolation Schritt für Schritt aufgehoben werden und auch in der Kunsthalle Wien die Wiedereröffnung des Ausstellungsbetriebs ins Haus steht, ist es vielleicht ein etwas melancholisch-anachronistischer Move, die folgenden zwei Bücher zur erbaulichen Lektüre vorzuschlagen: Es sind zwei Publikationen, die den Schauplatz ihrer Betrachtungen „nach innen“, in ein Mit-Sich-Sein verlegen, indem sie beispielsweise vorschlagen, eine neue „Beziehung zum eigenen Gehirn“ (Malabou, 121) einzugehen oder im Rückzug von der Welt das Denken selbst zu bedenken. Dass dabei die „Endlichkeit des Wissens und die unendliche Offenheit des Fragens“ (Böhme, 72) und die „konflikthafte und widersprüchliche […] Natur des Denkens“ (Malabou, 118 f.) als begrüßenswerte Fluchtpunkte der Erkenntnis im Raum stehen, mag in der aktuellen Ungewissheit, z.B. hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen, etwas luxuriös erscheinen. Es sei hier aber trotzdem für den Bedarfsfall als Refugium to go – Zelle der Widerspenstigkeit, Resilienz-Tankstelle mit auf den Weg in eine veränderte und zu verändernde Normalität gegeben.

Für einen Freund hatte ich in den ersten Wochen der Quarantäne das Fischer kunststück Taschenbüchlein über Albrecht Dürers „Meisterstich“ Melencolia I (1514) aus dem Regal gezogen. Das Buch stand dort seit der Zeit, als mein Kunstgeschichtsstudium sukzessive, aber nicht umweglos in der Tätigkeit als Kunstvermittlerin aufging. Wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme in seinem Essay durch die Symbolwelt des Bildes, mögliche geistesgeschichtliche Hintergründe und eine von Unvereinbarkeiten durchzogene Geschichte an Deutungsversuchen führt, entwirft ein Verständnis des Blattes als „Denkbild“ (69) – ein Schauplatz der Einsicht in die Unmöglichkeit, abschließend „ein Sinnganzes erfassen“ (9) zu können – und ist damit Anleitung zu einer Selbstreflexion, die sich lustvoll der Begrenztheit des eigenen Wissens stellt. Das gab mir Modell und Agenda für die Formen und Foren der gesprächsbasierten Kunstbetrachtung, wie ich sie in Folge gestalten wollte. Mit dem Freund wollte ich mich allerdings eher für die im trotzigen Blick gipfelnde Pose der Engelsfigur begeistern, die mir als perfekte Ikone für die Lizenz zum beglückten Hinter-Sich-Lassen der alltäglichen Hast des Sozialen erschien. War es ein Witz der Verdrängung, dass bei mir (der Freund verzichtet komplett auf diese digitale Verschaltung) mit den Online-Video-Meetings dieses Soziale bald wieder Einzug hielt? Als gerasterte Monitorbühne, auf der nun viele, wie der Engel, ihre vom Blick in die flimmernde Leere schweren Köpfe auf Hände stützen müssen. Wo wir uns doch nicht ins Gesicht greifen sollen!

Hier nun also eine digitale Allegorie der Erschöpfung (der Melancholie?), geschuldet der technologisch hoch frisierten Auflösung der Work-Life-Grenze und unserer so selbstverständlich aufgerufenen Fähigkeit zur Anpassung an neue (Arbeits-)Bedingungen, genannt „Flexibilität“. Heute ist es ein Umgang mit der Pandemie-Krise, aber davor? In ihrem Essay Was tun mit unserem Gehirn? von 2006 propagiert die französische Philosophin Catherine Malabou den Widerstand gegen die „ideologische Norm“ (102), die die neurowissenschaftliche Entdeckung der Plastizität des Gehirns, also der Tatsache, dass seine Struktur nicht nur einem genetisch vorgegebenen Programm folgt, sondern lebenslang aktiv gestaltbar ist, als reduzierte Vorstellung einer Apparatur der beliebigen Anpassungsfähigkeit ausbeutet. Malabou arbeitet demgegenüber heraus, wie schon auf der basalsten Ebene der Übersetzung neuronaler Muster (und ihrer Veränderungen) in mentale Vorgänge widerständige Momente den Ton angeben („eine poetische Aktivität“, 116). Doch noch hat diese „neuronale Revolution für uns nichts revolutioniert […], es sei denn, daß unser Gehirn uns nur dazu dient, mobiler zu sein, besser zu arbeiten, besser zu fühlen oder besser zu gehorchen.“ (101)

Nun, zu hoffen bleibt, dass es hie und da in den Zonen der „Einklammerung der Sozialität“ („manchmal der einzige Zugang zur Alterität“, so Malabou in ihrem aktuellen Text In die Quarantäne aus der Quarantäne, https://transversal.at/blog/in-die-quarantane-aus-der-quarantane) gelang, in den Begegnungen mit sich selbst auch einem ungehorsamen Gehirn über den Weg zu laufen und mit ihm erste Ansätze für „neue Lebensweisen“ freizusetzen, „neue Arten und Weisen, glücklich zu sein“ (99), die als Forderungen in das Kommende mitgenommen werden können.

Buchtipp von Michael Simku

Michael Simku, Kunstvermittler der Kunsthalle Wien, empfiehlt die Novelle Folding Beijing von Hao Jingfang:

Peking ist in einer nicht näher definierten Zukunft physisch in drei Bereiche unterteilt, die Bevölkerung in drei Klassen aufgeteilt. Die verschiedenen Stadtteile befinden sich nicht, wie man vermuten würde nebeneinander, sondern sie sind übereinander gelagert, räumlich getrennt und zeitlich in einem 48-stündigen Kreislauf organisiert.

Die herrschende Klasse, der 5 Millionen Menschen angehören, bewohnt die Stadt für volle 24 Stunden, danach wird die Erdoberfläche von innen nach außen gefaltet, inklusive prächtiger Wohnbauten, üppiger Parkanlagen und architektonischer Wahrzeichen. Darunter kommt die Mittelklasse mitsamt ihrer nüchternen Büros, ihrem relativem Komfort und einer funktionalen Infrastruktur hervor. Für diesen Teil der städtischen Bevölkerung, immerhin 25 Millionen Menschen, dauert der Tag 16 Stunden, danach werden auch sie wieder eingefaltet. Darunter kommt dann schließlich die dritte Klasse zum Vorschein, die aus 50 Millionen Menschen besteht. Ihre Version von Peking ist wesentlich überfüllter und schmutziger als die anderen beiden. Die erste Klasse herrscht und bestimmt, die zweite verwaltet und die dritte kümmert sich vor allem um den anfallenden Müll, den die anderen produzieren. Sobald es an der Zeit ist, eine Klasse einzufalten, werden die jeweiligen Bewohner*innen in einen künstlichen Schlaf versetzt. Der Transfer zwischen den Zonen ist fast unmöglich und jeder Versuch wird mit langwierigen Gefängnisstrafen geahndet.

Diese Welt erkunden die Leser*innen durch die Augen eines Protagonisten aus dritten Klasse, der in der Müllverarbeitung beschäftigt ist. Durch zufällige Umstände muss er, angetrieben von finanziellen Problemen, die fast unmögliche Reise von seiner Zone in die erste Klasse und zurück antreten: Er soll für einen Bewohner der zweiten Klasse dort einen Liebesbrief zustellen.

Man erfährt im Laufe der Geschichte, dass es in dieser Version der Zukunft möglich wäre, die sehr ausführlich skizzierte ökonomische Ungleichheit mithilfe von vorhandenen Technologien aufzulösen. Diese kommen aber nicht zur Anwendung, stattdessen werden die 50 Millionen Einwohner*innen dritter Klasse in prekären Beschäftigungen gehalten, während die zweite Klasse dieses System verwaltet.

Diese Verbindung von gesellschaftlichen Status und Reichtum mit physischen Lebensbedingungen ist in der momentanen Situation aktueller – und deutlicher – denn je. Wer kann es sich leisten, zu Hause bleiben oder von zu Hause zu arbeiten? Welche Berufe werden in und von der Gesellschaft besonders geschätzt und gewürdigt? Wird es zukünftig möglich sein, das gesellschaftliche Leben rund um Arbeit zu organisieren? Wie wird die wachsende Ungleichheit das Leben beeinflussen und welche Rolle wird Technologie dabei spielen?

Die Autorin Hao Jingfang hat für ihre Novelle Folding Beijing mehrere renommierte Preise gewonnen. Ihr Erfolg ist ein anschauliches Beispiel für die zunehmende internationale Bedeutung chinesischer Science-Fiction. Im restriktiven medialen Klima der Volksrepublik scheint dieses Genre einen der wenigen Räume zu öffnen, in dem es möglich ist, Gesellschaftskritik zu äußern. Die „Abstraktion“ durch die Fiktion, mit der aktuelle Themen meist in die Zukunft projiziert werden, bietet einen Weg, fundamentale soziale, ökologische und politische Probleme der Gegenwart zu verhandeln. Die große heimische Nachfrage zeugt davon, wie groß und dringend das Bedürfnis der Chines*innen nach diesen (literarischen) Perspektiven ist.

Diese Novelle ist unter anderem im Sammelband Invisible Planets erschienen. Dabei handelt es sich um eine zentrale Sammlung chinesischer Science-Fiction, die einige der bedeutendsten Autor*innen dieser Strömung erstmals außerhalb des chinesischen Sprachraums bekannt gemacht hat. Der Band wurde vom Autor Ken Liu, selbst ein wichtiger Vertreter des Genres, ins Englische übersetzt und ist 2017 bei Head of Zeus erschienen.

Auf Deutsch wurde die Novelle unter dem Titel Peking falten 2018 bei Rowohlt veröffentlicht.

Buchtipp von Vasilen Yordanov

Vasilen Yordanov, Assistent der Direktion der Kunsthalle Wien, empfiehlt Up the Down Staircase (1964) von Bel Kaufman:

Wer noch nie mit der Schulverwaltung aneinander geraten ist, könnte den ersten Teil dieses Buches ohne Weiteres für eine Parodie, absurdes Theater oder gar Nonsens halten. Lehrer*innen wiederum (oder wie meinem Fall: der Sohn einer Lehrerin) würden vielleicht ihre Schule, die Arbeitsatmosphäre und die Schwierigkeiten, mit denen sie im schulischen Umfeld konfrontiert sind, wiedererkennen.
„Servus, Paukerin!“ So wird Sylvia Barrett – unerfahren, aber umso optimistischer – an ihrem ersten Arbeitstag als Lehrerin für klassische englische Literatur an einer durchschnittlichen, urbanen High School begrüßt. Am Anfang ist das Setting noch irrsinnig komisch: Es gibt zwar Schüler, aber keine Sessel; eine Tafel, aber keine Kreide; es gibt einen Schulgong, den man ignorieren soll, eine anhaltend kaputte Fensterscheibe sowie einen Schulhausmeister im Untergeschoss, der ihr auf einen Zettel zurückschreibt: „Hier ist niemand“. Die netten, höflichen Schüler*innen, die sie sich vorgestellt hatte, sind in Wahrheit apathisch, desinteressiert, aggressiv, arrogant und gehen fast über vor jugendlicher Sexualität und umherschweifender Gedanken. Sylvia ertrinkt in bürokratischen Formularen in dreifacher Ausfertigung und noch dazu muss sie sich um die großen, menschlichen Probleme ihrer Schüler*innen kümmern.

Trotz seines düsteren Untertons ist der Roman zugänglich und leicht zu lesen. Er besteht hauptsächlich aus Teilen von Hausaufgaben, Auszügen aus der schulinternen Kommunikation und Notizen der Schüler*innen, persönlichen Briefen sowie Formularen, eines lächerlicher als das andere. Die gekritzelten Zeichnungen auf weggeworfenen Zetteln erinnern an die Zwischentitel in einem Stummfilm – dahinter werden die Schwierigkeiten und Dramen der Schüler*innen deutlich.
Bei ihrem sturen Versuch, „die Treppe gegen den Strom hinauf“ zu gehen, bleibt Sylvia nicht unversehrt. Dennoch entdeckt sie trotz aller Hindernisse den Sinn ihres Berufs – und ihre Berufung. Man könnte meinen, dass eine Lehrerin im echten Leben die Probleme ihrer Schüler*innen allein nicht lösen könnte, und hätte damit vollkommen Recht. Aber genau deshalb ist dieser Roman so realistisch und emotional:
“The frightening thing is their unquestioning acceptance of whatever is taught to them by anyone in front of the room. This has nothing to do with rebellion against authority; they rebel, all right, and loudly. But it doesn’t occur to them to think.”

Eine Taschenbuchausgabe von Bel Kaufmans Up the Down Staircase ist bei Vintage Books, New York erschienen.

Unterstützen Sie Ihre lokale Buchhandlung!

Buchtipp von Christina Zowack

Christina Zowack, Leitung Ticketing und Shop in der Kunsthalle Wien, stellt uns heute ein Buch vor, das sie zufällig entdeckt, dann aber umso mehr gefesselt hat – Geschichte machen von Stephen Fry:

Dieses Buch habe ich vor langer Zeit gelesen, und es ist mir seitdem im Gedächtnis geblieben, was man nicht von vielen Büchern sagen kann. Ich habe es auch nicht gekauft, sondern an der Kunsthallen-Kassa gefunden, wo es dann niemand mehr abgeholt hat.

Eigentlich wollte ich nur kurz reinlesen, weil ich gar keine Zeit für ein Buch hatte, aber dann hat es mich schon nach der ersten Seite gepackt und ich habe nächtelang durchgelesen. Stephen Fry hat einen ganz feinen Humor und regt trotzdem zum Nachdenken an.

Das Buch handelt von einem jungen Historiker, der mit seinem Doktorvater die Geburt von Adolf Hitler verhindern will und dabei die Frage stellt, ob man Geschichte verändern darf/sollte (wenn man könnte).

Für mich ein guter Titel gerade zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen am 5. Mai 1945.

Eine Taschenbuchausgabe von Stephen Frys Geschichte machen ist im Aufbau Verlag Berlin erschienen.

Buchtipps von Anne Faucheret

Anne Faucheret, Kuratorin der Kunsthalle Wien, empfiehlt zwei Bücher:

1# Die Kurzgeschichte Die Gelbe Tapete (1892) von Charlotte Perkins Gilman erzählt von Veränderung und Befreiung durch das Schreiben. Eine junge Frau wird von ihrem Mann, einem angesehenen Arzt, zu Isolation und Untätigkeit gezwungen; er diagnostiziert bei ihr eine „reizbare Schwäche“ und eine „leichte hysterische Tendenz“. Sie bezieht ein gemietetes Sommerhaus am Land und beginnt im Geheimen, ein Tagebuch zu schreiben.

Die scheußliche und gleichzeitig mysteriöse gelbe Tapete, die die Wände des Raums bedeckt, in dem sich die Frau aufhält, erscheint dieser bald seltsam lebendig oder gar bewohnt zu sein: „Eines jener überladenen, grellen Muster, das jedem Kunstsinn spottet. Es ist öde genug, um das Auge zu verwirren, wenn man ihm folgt, aber auch ausgeprägt genug, um unablässig zu irritieren und zum Hinschauen zu zwingen, und wenn man den lahmen, unbestimmten Kurven ein Stück weit folgt, begehen sie plötzlich Selbstmord – brechen in unsäglichen Winkeln ab und heben sich in nie dagewesenen Widersprüchen auf.

Schon bald wird die Tapete zur Bühne für halluzinatorische Bilder, die zugleich vom zunehmenden Wahnsinn wie auch der Emanzipation der Erzählerin – wenn auch nur einer geistigen – zeugen. Schließlich befreit sie sich aus ihrer Gefangenschaft, von den patriarchalen und disziplinären Strukturen, denen sie unterworfen ist: „Ich will nicht nach draußen gehen. Das werde ich nicht, auch wenn Jennie mich darum bittet. Denn draußen muss man auf dem Boden kriechen, und alles ist grün statt gelb. Aber hier kann ich sanft auf dem Boden kriechen, und meine Schulter passt perfekt in diesen langen Streifen an der Wand, so dass ich mich nicht verirren kann. Da ist John an der Tür! Es hat keinen Sinn, junger Mann, du kannst sie nicht öffnen!

Der ironische und fast possenhafte Abschluss der Erzählung ist brillant.

Die gelbe Tapete ist 2018 in einer Neuübersetzung von Christian Detoux im Dörlemann-Verlag erschienen.

2# In Krankheit als Metapher (1978) und Aids und seine Metaphern (1988) entwickelt Susan Sontag eine Analyse des kulturellen und politischen Umgangs mit Krankheiten. Beginnend mit Krebs – der bei ihr 1976 diagnostiziert wurde – und AIDS, führt sie auch andere Krankheiten wie Pest oder Cholera ins Feld und liefert dazu theoretische und literarische Textbeispiele von unter anderem Machiavelli, Balzac oder D. H. Lawrence.

Krankheiten dienen ebenso als Metaphern (um damit soziale Probleme oder „staatsfeindliches“ Verhalten zu benennen), wie sie selbst Gegenstand von Metaphern sind: Sie fungieren als semantisches Rüstzeug zur Abwehr von invasiven Kräften oder zur Wahrung von Grenzen in der Gesellschaft. Für Susan Sontag signalisieren diese Metaphern zum einen die Verweigerung, sich dem kranken Körper zu nähern, und zum anderen die Neigung, normierte, gesunde, effiziente Körper vorzuziehen. Der soziale, politische und kulturelle Zugang zu Krankheit wird hier zum zentralen Schauplatz für die Reproduktion von Machtverhältnissen – Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Sexualität, Gender –, die Sontag vehement kritisiert.

Ihre Überlegungen haben mir geholfen, die militärische Rhetorik unserer Politiker*innen und ihre Rechtfertigung autoritärer Maßnahmen in Zeiten der Coronavirus-Pandemie zu verstehen.

„[…] sind doch unsere Anschauungen über Krebs und die Metaphern, die wir ihm angehängt haben, in hohem Maße Vehikel für die großen Unzulänglichkeiten dieser Kultur, für unsere oberflächliche Haltung dem Tod gegenüber, für unsere Ängste gegenüber dem Gefühl, für unsere rücksichtslosen, leichtsinnigen Reaktionen auf unsere wirklichen ‚Wachstumsprobleme’, für unsere Unfähigkeit, eine fortgeschrittene Industriegesellschaft aufzubauen, die den Konsum in angemessener Weise reguliert, ein Vehikel auch für unsere berechtigte Furcht vor dem zunehmend gewalttätigen Verlauf der Geschichte.

Der Doppelband Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern ist als Taschenbuch im S. Fischer Verlag erschienen.

Buchtipp von Adina Hasler

Adina Hasler, Mitarbeiterin der Marketingabteilung der Kunsthalle Wien, empfiehlt Und wie wir hassen!, herausgegeben von Lydia Haider:

Ich wollte dieses Buch schon haben, als ich nur davon gehört hatte, dass es erscheinen wird – und noch mehr, als ein paar Texte daraus bei der Eröffnung unserer Ausstellung … von Brot, Wein, Autos, Sicherheit und Frieden von den Autor*innen vorgelesen wurden. Als ich es endlich in den Händen hielt, begann tatsächlich gerade die Quarantäne in Wien und ich konnte mich voll und ganz dem Lesen widmen. Die Autorin Lydia Haider hat für Und wie wir hassen! 15 Künstler*innen aus unterschiedlichen Bereichen versammelt, die in 15 Hetzreden über Dinge schreiben, die sie hassen, die sie einfach nicht mögen, die sie schon immer nerven oder die sie seit Ewigkeiten in Rage bringen.

Ein paar der Texte gab es bereits: Wie zum Beispiel Songtexte der Musikerin und Rapperin Ebow, die wie Gedichte zwischen den anderen Textbeiträgen stehen, ebenso die bekannten Statusmeldungen der Autorin Stefanie Sargnagel oder ein Text von Sibylle Berg aus dem Jahr 2013 über eine Mutter, die ihren eigenen Sohn nicht mehr ertragen kann. Andere haben für diesen Band ganz neue Beiträge verfasst: So beschreibt die bildende Künstlerin Sophia Süßmilch in einer Aufzählung detailliert, was sie alles hasst – und das in einer unglaublich direkten, pointierten Art. Oder Maria Muhar, die mit Worten und Sätzen, über was es zu hassen gilt, wie mit Versatzstücken spielt.

Jede einzelne dieser allercoolsten Frauen bedient sich einer anderen Form für ihre „Abrechnung“ und doch sind allen Autor*innen wiederkehrende Themen gemein, die ihre Beiträge zusammenflechten: die Abrechnung mit dem Patriarchat, binären Geschlechtervorstellungen, mit denen wir noch immer konfrontiert sind und gegen die es andauernd zu kämpfen gilt, oder auch die politische Lage – und natürlich vieles, vieles mehr. Alles aufzuzählen, würde aber den Umfang dieser Empfehlung sprengen. Und außerdem soll ja nicht alles verraten, sondern am besten schnell selbst gelesen werden.

Eine Hetzrede von Lydia Haider selbst fehlt allerdings in dieser Textsammlung, weswegen ich schon sehnlichst auf eine zweite Ausgabe hoffe. Das Jahr 2020 bietet ja schon jetzt genug Stoff dafür. Selten habe ich beim Lesen eines Buches so viel gelacht und noch nie war ich am Ende so empowered. Und Achtung, Spoiler: Auch Cat Content wird gehatet.

Und wie wir hassen! ist bei Kremayr & Scheriau erschienen, einem kleinen Wiener Verlag – support and order here.

Buchtipp von Michaela Schmidlechner

Michaela Schmidlechner, Kunstvermittlerin der Kunsthalle Wien, empfiehlt Egill Saebjörnssons Künstlerbuch The Trolls in Hellsinki.

Ūgh und Bõögâr sind über 36 Meter große isländische Trolle, die sich in verschiedene Lebewesen oder Objekte verwandeln können. Michaela hat die beiden erstmals 2017 auf der 57. Biennale von Venedig gesehen, wo die Trolle gemeinsam mit dem Künstler Egill Saebjörnsson für den isländischen Pavillon die Installation Out of Control in Venice gestaltet haben. Sie hat sich sofort in ihre wilde, anarchische und kreative Art verliebt und verfolgt seitdem gespannt ihre künstlerische Laufbahn.

Das Buch The Trolls in Hellsinki schildert, wie Ūgh und Bõögâr mit Egill nach Helsinki reisen und für eine Gruppenausstellung ihre ersten Malereien produzieren. Es stellt sich heraus, dass ihre Malereien mehrere Dimensionen haben und sich ebenfalls bewegen und verändern können. Die Besucher*innen der anschließenden Ausstellung, die in einer unterirdischen Höhle stattfindet, können die sogenannten Troll-Malereien sitzend bei einer köstlichem Tasse Kaffee genießen: Wenn sie lange genug und aufmerksam schauen, spüren das die Malereien und beginnen ihre Farben zu ändern – dann erblicken die Besucher*innen etwas, was sie nie zuvor gesehen haben!

The Trolls in Hellsinki zeigt einmal mehr, dass Humor und Kreativität uns in besonderen Zeiten eine große Unterstützung sein können.

Das Künstlerbuch ist bei argobooks (Berlin) erschienen.

Buchtipp von Flora Schausberger

Flora Schausberger, Mitarbeiterin in der Ausstellungsproduktion, erinnert die aktuelle Situation an den Titel eines Buches der amerikanischen Autorin Chris Kraus, das sie vor einiger Zeit gelesen hat – Torpor.

Torpor (lat.) ist ein Zustand der Erstarrung, der Inaktivität und der Betäubung, der bei (kleinen) Säugetieren eintritt, wenn sie aufgrund eines Nahrungsmittelmangels oder wegen zu großer Hitze oder Kälte ihren Energieverbrauch auf ein Minimum senken. Ebendiesen Begriff hat Chris Kraus als Titel ihres Romans gewählt, der 2006 bei Semiotext(e) erschienen ist.

Torpor begleitet Sylvie Green und Jerome Shafir, ein intellektuelles Paar aus New York, Anfang der 1990er-Jahre auf einem Roadtrip durch das bröckelnde Osteuropa. Sylvie möchte ausbrechen aus dem Zustand des Torpors, der ihre Beziehung zu Jerome kennzeichnet: Die letzten Jahre hat sie als Ghostwriterin seiner akademischen Essays und als stille Begleiterin bei Abendessen mit seinen intellektuellen Männerfreunden verbracht. Es ist Sommer 1991, die Berliner Mauer ist geöffnet, Ceausescu gestürzt, im Radio läuft Nirvana und Sylvie hat den Plan gefasst, dass nur zwei Dinge ihre Beziehung retten können: die Adoption eines Kindes aus Rumänien und die Fertigstellung von Jeromes Anthropologie des Unglücklichseins, einem Buch über den Holocaust. Auf der Reise begleitet werden die beiden von ihrer Hündin Lily – eingepfercht in eine Nylontasche scheint sie das einzige zu sein, was die beiden noch verbindet.

Für manche mag Torpor eine Strategie bieten, die kommenden Wochen zu überstehen. Vielleicht wachen wir aber auch gerade aus einem viele Jahrzehnte dauernden Torpor auf.

Torpor ist auf Deutsch im Verlag b_books erschienen.

Buchtipp von Aziza Harmel

Der persönliche Lesetipp der kuratorischen Assistentin Aziza Harmel ist Im Herzen des Herzens eines anderen Landes von Etel Adnan – ein Buch, das sie vor kurzem gelesen hat und als sehr inspirierend empfand.

Gleich einem Palimpsest überlagern sich die Textschichten in den sieben Abschnitten dieses Buches. Sie reichen von den 1970er-Jahren bis zur Gegenwart, angeregt von William H. Gass‘ gleichnamigem Band mit Kurzgeschichten: So schrieb Adnan den ersten Teil ihrer Sammlung von Prosaminiaturen anlässlich der Rückkehr aus dem kalifornischen Exil nach Beirut im Jahr 1972. Adnan nutzte Schlagworte – Menschen, Orte, Wetter, der/die Gleiche, der/die Andere, Kirche, Politik – um sich zu ihrem assoziativen Schreiben anregen zu lassen: „Youssef el Khal sagte eines Tages, ich sei eine Dichterin. Ja, ich bin die Dichterin im Herzen der Stadt. Ein Punkt. Ich bin die Dichterin des Hier und Jetzt. Aber da ich eine Frau bin, bin ich unsichtbar.“

Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen, auch ins Deutsche und Englische, übersetzt.

Buchtipps von Laura Amann

Laura Amann, kuratorische Assistentin der Kunsthalle Wien, verrät uns ihre persönlichen Empfehlungen für drei Bücher, die als Referenzen zur Ausstellung … von Brot, Wein, Autos, Sicherheit und Frieden gelesen werden können. Die Auswahl schafft eine lose Verbindung zwischen dem Verständnis, welche Rolle Ausbeutung beim Aufbau unserer Gesellschaften spielt, sowie dem Vergleich anarchistischer und kapitalistischer Modelle menschlicher Beziehungen mittels Science-Fiction und einem im Bereich des Öko-Feminismus angesiedelten Romans, der das Ende binärer Denkstrukturen vorhersagt.

1# Die offenen Adern Lateinamerikas (Open Veins of Latin America), geschrieben von Eduardo Galeano, wurde 1971 erstmals veröffentlicht und gilt immer noch als Standardwerk für die lateinamerikanische Geschichte nach Columbus. Im Stil eines fesselnden Romans verfasst, erspart uns Galeano trockene historische Daten und schildert das Geschehen aus einem gänzlich anderen und dringend notwendigen Blickwinkel, als jenem, den wir in unseren euro-zentristischen Bildungssystemen gewohnt sind. Es werden „fünf Jahrhunderte der Plünderung eines Kontinents“, nämlich Lateinamerikas, eindringlich aufbereitet und schrittweise erklärt, warum „unser“ Wohlstand in Europa auf gewalttätigen Strategien – geprägt von Genoziden, ausbeuterischen Handelsabkommen und einer Reihe mörderischer, von den USA gestützter Diktatoren – beruht. Gerade im österreichischen Kontext, der sich gerne distanziert und von jeglichen „kolonialen“ Aktivitäten ausnimmt, ist es umso wichtiger zu begreifen, dass unsere „entwickelten“ Länder auf dem Rücken und Leid anderer aufgebaut wurden, und daher die Benachteiligung dieser genauso in unserer Verantwortung liegt.

2# In ihrem Science-Fiction-Roman Freie Geister (The Dispossessed) beschreibt die Autorin Ursula K. Le Guin die Koexistenz zweier radikal unterschiedlich funktionierender Gesellschaften auf benachbarten Planeten. Obwohl sie wirtschaftlich voneinander abhängig sind, halten sie strengen Abstand zueinander. Die Anarchisten fürchten sich vor hierarchischen bzw. kapitalistischen Ideen und umgekehrt. In einem  Ausnahmefall darf ein Physiker die ansonsten streng geschlossene Grenze überschreiten, um eine bahnbrechende Technologie zu entwickeln. Le Guins geschickt konzipierte Erzählung sowie die Beschreibungen der inneren Konflikte der Hauptfigur laden uns ein, zahlreiche anarchische wie kapitalistische Ideen, die sich mit dem Zusammenleben, Familienmodellen, sexuellen Beziehungen, Besitz und gesellschaftlichen Organisationsformen im Allgemeinen beschäftigen, neu zu betrachten und zu überdenken. Denn, wie eine der Figuren im Roman poetisch erklärt, ist „unsere Erde deren Mond, und unser Mond deren Erde.“

3# Die Wand von Marlen Haushofer ist ein eindrücklicher Roman, der sich getarnt als simples Tagebuch, allmählich entfaltet. Er beschreibt den Alltag einer Frau, die auf einer Hütte in den Bergen gefangen und durch eine unsichtbare Wand vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Ihre einzigen Begleiter in dieser Situation sind ein Hund, eine Katze sowie eine Kuh und deren Kalb. Die Protagonistin beschreibt, wie die Situation sie dazu zwingt sich selbst, aber auch ihren Umgang zur Umwelt radikal zu ändern – nicht nur, um zu überleben sondern um in erster Linie ihre körperliche und geistige Gesundheit zu bewahren. Fast unheimlich in seiner Relevanz – noch mehr in Zeiten der Quarantäne –, ist es schwer, dieses Buch nicht als frühes öko-feministisches Werk zu verstehen, welches das moderne Leben kommentiert, indem es  dessen Ende beschreibt. Zwischen einem utopischen Paradies und einem dystopischen Albtraum oszillierend, macht der Roman deutlich, dass unser Überleben nur dann möglich ist, wenn wir es schaffen binäre Zuschreibungen wie Mensch – Tier, männlich – weiblich, Kultur – Natur, Kolonisator und Kolonisierte endlich abzulegen.

  
 

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