Alice Creischer & Andreas Siekmann: Lasst uns das menschliche Denken abschaffen, lasst es uns ausradieren

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Auszüge aus einem Interview mit Philip Mirowski von Alice Creischer und Andreas Siekmann für das Potosí-Prinzip-Archiv

Das Potosí-Prinzip-Archiv versucht, die Fragen und Ideen, die während des Potosí-Projekts vor zehn Jahren aufkamen, zu archivieren und weiterzuverfolgen. Das Potosí-Prinzip (kuratiert von Alice Creischer, Max Jorge Hinderer und Andreas Siekmann) war ein Projekt über historische Gemälde aus dem kolonialen Potosí und der Altiplano-Region in Bolivien. Diese Gemälde wurden ergänzt durch Arbeiten von zeitgenössischen Künstler*innen aus Bolivien, Argentinien, China und Europa. Die Ausstellung wurde 2010 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid und im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt und war 2011 im Museo Nacional de Arte und im Museo Nacional de Etnografía y Folklore in La Paz zu sehen. Im Verlauf des Projekts und der fortlaufenden Diskussionen stellten sich vier zentrale Fragen, die die Ausstellung strukturiert haben: Fragen zur Kontinuität der ursprünglichen Akkumulation, zu Menschenrechten und Hegemonie, zur Funktion der Kunst, Machtverhältnisse zu stabilisieren, und zur verkehrten Welt. Auch nach zehn Jahren geht das Archiv diesen Fragen weiterhin nach und trägt damit den blinden Flecken und offenen Debatten Rechnung, die das Projekt nach wie vor kennzeichnen.

Das Interview mit Philip Mirowski ist Teil einer Überarbeitung des Kapitels über die ursprüngliche Akkumulation und ist ein Appell, diesen Begriff im Zeitalter des Kapitalismus nach der Krise zu überdenken, vor allem, weil sich sein Charakter durch die Digitalisierung verändert. Die Digitalisierung verbindet diese Themen mit der Arbeit von Andreas Siekmann, die in dieser Ausstellung gezeigt wird. Wir dachten daher, dass es nützlich sein könnte, Auszüge aus dem ursprünglich längeren Interview als Hintergrundinformation einzubeziehen.

Berlin, 10. Dezember 2017

Andreas Siekmann: Einer der Gründe, warum wir Sie zu diesem Gespräch eingeladen haben, war Ihre Untersuchung dazu, wie der Neoliberalismus die Krise überlebt hat. Wir glauben, dass dieses Chamäleon eine sehr umfassende Geschichte hat, die uns Aufschlüsse darüber geben kann, wie der Kolonialismus als eine Art Prinzip funktionierte und immer noch funktioniert.

Alice Creischer: Unsere erste Frage bezieht sich auf den Extraktivismus – wir beobachten eine Kontinuität, die von Potosí bis zum Tagebau in Südamerika und in aller Welt reicht. Sehen Sie eine gewisse historische Entwicklung von der Rohstoffwirtschaft über die Marktwirtschaft bis zu „gestalteten“ Märkten – ein Trend, über den Sie in Ihrem jüngsten Buch geschrieben haben?

Philip Mirowski: Bedenken Sie, dass ich das aus dem Blickwinkel des Wirtschaftshistorikers betrachte. Die Idee, dass der Wert aus dem Boden kommt, war der früheste Substanzbegriff der Wirtschaftswissenschaft, bevor es Wirtschaftswissenschaft im strengen Sinne überhaupt gab. Man findet diese Sichtweise beispielsweise bei jemandem wie David Ricardo. Dann kommt die Verschiebung zum Marxismus; da war die Wirtschaftswissenschaft immer noch materialistisch, aber alles drehte sich jetzt um den Menschen und hing mit der Arbeit zusammen. Aber es ist immer noch sehr wichtig, dass es diese Art der „fixen Arbeit“ gibt, denn nur dadurch kann man Ausbeutung definieren. Anders wäre das nicht möglich. Darüber war sich Marx völlig im Klaren. Das ist immer noch eine Substanztheorie des Werts, in der der Wert irgendwie durch die Ware limitiert wird. Dann haben wir diese Hinwendung zur Energie in der neoklassischen Theorie der Ökonomie, die eine vollkommene Abkehr von der vorherigen Auffassung darstellt. Jetzt ist es die Energie, die den Wert erschafft. Die Energie wird auf das Denken über­tragen. Was passiert, ist, dass man im Grunde alle physikalischen Aspekte negiert oder sich ihrer entledigt. Deshalb kann es in der neoklassischen Wirtschaftstheorie keine Extraktion geben. Es gibt keine Extraktion, weil diese Energie keine physikalische Grundlage hat. Es ist alles eine Frage des Denkens; es geht darum, was wir für wichtig halten, und so fort … und das ist das Problem. Ich verstehe, dass Marxist*innen immer noch über Extraktion und Ausbeutung sprechen wollen. Aber ihre ganze Sichtweise wurde negiert, als wir uns in diese Sphäre der Energie hineinbewegten, sodass man nicht mehr darüber sprechen konnte. Es gibt in der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft eigentlich keine Debatte über Ausbeutung oder Extraktion, nicht wirklich. Und da kann man selbstverständlich sagen: Genau das ist das Problem!

AS/AC: Richtig!

PM: Aber sie hatten die kulturelle Metapher und all das hinter sich, und auf diese Weise konnten sie rekonstruieren, was Ökonomie war. Aber wir sind immer noch nicht am Ende: Wir kommen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und es passiert noch einmal, und anfangs nicht bewusst, außer bei den Neoliberalen. Das ist einer der Gründe, warum sie so mächtig sind. Sie erkennen, dass sie in ihren ganzen politischen Einstellungen von der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft abrücken können. Ich kenne Leute, die sagen: „Aber was ist mit Milton Friedman?“, und darüber kann man reden, aber in Wirklichkeit ist das eine falsche Fährte. Sie lenken die gesamte Schubkraft ihres Narrativs weg von der Energie-Erzählung und richten sie auf den Bereich der Information.

AS: In Ihrem Buch Never Let a Serious Crisis go to Waste 01 beschreiben Sie, welche Rolle neoliberale Denkkollektive dabei spielten, dass die neoliberale Politik nach der Finanzkrise fortgesetzt werden konnte.

PM: Also, ich habe eine ganz klare Meinung zur Rolle von Thinktanks: Sie sind die Vermittlungsinstanzen für das, was wir im Großen und Ganzen glauben, und ich finde, es ist (auf eine merkwürdige Weise) interessant, dass die Ordoliberalen tatsächlich ein etwas besseres Verständnis dafür hatten, wie man so etwas organisiert. Wenn man verstehen will, wie es dazu kam, dass ihre Ideen im kulturellen Kontext aufgegriffen wurden, muss man folgende Geschichte kennen: [Friedrich A.] Hayek baute Antony Fisher auf, damit dieser das IEA [Institute of European Affairs] und dann Atlas als koordinierenden Thinktank gründete. Sie sprechen andauernd von einer spontanen Ordnung, was im Verhältnis zu dem, was sie tun, vollkommener Blödsinn ist. Sie errichten eine komplexe Organisation, die die Implikationen ihres eigenen Denkens durchdenkt. Diese Thinktanks wollen nicht nur mehr Menschen, die über Denkweisen nachdenken, sie wollen eine Abteilung für Journalist*innen, eine Abteilung für Astroturfing [verdeckte Beeinflussung der Öffentlichkeit, A.d.R.] … Verstehen Sie, was ich meine? Auf diese Weise übersetzen sie „große Ideen“ in einen lokalen Kontext, machen ihn attraktiver und verändern ihn vielleicht, um über die Rahmenbedingungen der politischen Lage zu sprechen. Das ist einer der Gründe, warum sie erfolgreich sind und die Linke nicht. Die Thinktanks der Linken sind nicht wirklich miteinander koordiniert. Die Linke hat keine eigene Erzählung, warum sie an dieser Stelle scheitert, und es gibt gute Gründe dafür. Sie erzählt immer noch Geschichten wie: „Oh, Occupy war wunderbar, das war ein Aufstand von allen.“ Die Linke kann nicht glau­ben, dass sie ihre Ideen und Aktionen in einer besser koordinierten Struktur organisieren sollte, weil das eine Verschwörungstheorie oder was auch immer sei. Die Linke steckt in einer Falle, die die Neoliberalen ihr gestellt hat.

AS: Naomi Klein hat in ihrem Buch The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism (2007) ziemlich gut beschrieben, wie der Zwang zu wirtschaftlichen Veränderungen in den 1990er-Jahren auf dem Vorbild südamerikanischer Diktaturen beruhte.

PM: Ja, ich verstehe, warum das Buch so populär wurde, aber ich glaube, das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Naomi Klein lässt außen vor, dass es wirklich eine Art Vertrauen in das gibt, was die Neoliberalen als Erklärungen anbieten. Und wenn andere Leute ähnliche Erklärungen liefern, werden sie tatsächlich als Verbündete anerkannt. Dieses Niveau an epistemischer Koordination hat mich immer fasziniert.

AC: Weil sie den „Markt als Informationsprozessor“ zum epistemischen Paradigma machen?

PM: Nein, weil man die Bewegung dann überhaupt nicht versteht; man versteht nicht, wie sie einander erkennen. Auch wenn sie den Markt in gewisser Hinsicht verherrlichen, dringen sie doch in alle möglichen Bereich des menschlichen Lebens vor, die einfach nur eine Anwendung der Marktlogik in ihrem Gesangbuch brauchen: Der Markt weiß mehr als ich. Aber sie denken, sie könnten dazu beitragen, dass die Dinge in der Welt der Marktlogik besser funktionieren, indem sie andere Dinge, wie etwa die Wissenschaften – mein bevorzugtes Beispiel – einbeziehen.

AC: Sie erwähnten das Experiment von Dan Gode und Shyam Sunder – ein Marktexperiment mit Studierenden und einem Zufallszahlengenerator, die zu denselben Ergebnissen kamen. Was Menschen denken und tun, spielt für das Ergebnis also im Grunde keine Rolle. Das zeigt die grundsätzlich antihumanistische Einstellung der modernen Wirtschaftswissenschaft. Sie sprachen von einigen Regeln, durch die Käufer*innen und Verkäufer*innen aus dem Markt gedrängt und Budgetbeschränkungen auferlegt wurden. Sind das die Bedingungen der Austerität und Exklusion?

PM: Das ist ein zu großer Sprung. Man braucht mehr Hintergrundwissen darüber, was dieses Experiment zeigen sollte. Es kommt direkt aus einem neoliberalen Kontext; Vernon Smith, ein Mitglied der MPS [Mont Pèlerin Society], hatte großen Einfluss auf den Aufstieg der experimentellen Ökonomie in den USA. Er hat die sogenannte „Hayek-Hypothese“ aufgestellt und behauptete, dass die Neoklassik dadurch funktioniert, dass Menschen rationale Entscheidungen treffen müssen. Auf diese Weise erreichen wir hoffentlich ein Marktgleichgewicht: durch Experimente, über die Menschen nichts wissen müssen. Sie brauchen nur zu wissen, dass sie nach bestimmten Regeln Handel treiben müssen. Der Markt wird ihnen gewissermaßen den Weg weisen, und dann stellt sich das Gleichgewicht ein.

Aber das war noch nicht alles, und an dieser Stelle wird das Experiment wichtig. Sie behaupteten, dass das Marktgleichgewicht aufgrund der Marktstruktur von selbst entsteht. Lasst uns also das menschliche Denken abschaffen, lasst es uns ausradieren, lasst alles zu Algorithmen mit Zufallszahlen werden und lasst sie einfach beliebig Angebote und Nachfragen ausspucken, und dann werden wir sehen, ob wir ein Marktgleichgewicht bekommen oder nicht. Sie haben, vereinfacht gesagt, herausgefunden, dass man nur einige Regeln braucht, nach denen Angebot und Nachfrage organisiert werden. Wohlgemerkt – man organisiert nicht die Menschen, sondern man organisiert, wie Angebot und Nachfrage abzulaufen haben. Und das bringt uns, glaube ich, zu dem neueren Buch, in dem ich behaupte, dass das Marktdesign hierauf zurückgeht. Was die Leute denken, spielt keine Rolle mehr. Wirtschaftswissenschaftler*innen sagen: Solange ihr uns diese Märkte gestalten lasst, können wir jedes Ergebnis pro­duzieren, das ihr haben wollt. Und das ist genau das, was Neoliberale glauben; sie glauben, dass Menschen wirklich nichts begreifen. Daran erkennen sie sich untereinander, und deshalb sind ihnen auch Fake News völlig egal, weil die Leute nicht über den Tellerrand sehen – worüber sollte man sich also Sorgen machen? Der Lärm ist nur hilfreich.

Ich glaube, es geht nicht darum, einen allgemeinen Markt zu schaffen. Tatsächlich verkaufen diese Leute ihre Sachen folgendermaßen: Sie sagen, „Nein, ich werde keinen Markt für die Sachen in ihrer Boutique gestalten, ich werde einen speziellen Boutique-Markt für Sie gestalten.“ Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie wird es Leuten überhaupt ermöglicht, am Markt teilzunehmen? Wer kann definieren, was die Ware ist und welche Formen sie in diesem speziellen Prozess annimmt? Denn indem sie den Markt definieren, definieren sie auch die Waren. Eines der frühesten Beispiele hierfür war der Mobiltelefonmarkt. Es geht eigentlich nicht um Telefone, oder? Es geht darum, den Leuten alles Mögliche, die ganze Bandbreite von Produkten zu verkaufen, die sie im Internet finden, und dann die Regeln zu verändern, um einen Markt aufzubauen, der den Wünschen der Kundschaft entspricht. Und wenn das passiert, sind alle ursprünglichen politischen Ziele vergessen. Also, ist das antimaterialistisch? Ich sehe da kein Problem.

AC: Es gab das fordistische Märchen, dass der Markt die Bedürfnisse der Konsument*innen befriedigt. Sein populärer Slogan lautete: „Der Kunde ist König“. Ich fand immer, dass das der Joker für die klassische neoliberale Auffassung war, der Markt sei eine Bedingung für die Demokratie. Aber sogar der „Markt als Informationsprozessor“ behauptete irgendwie, als Lösung aller Probleme zu funktionieren – beispielsweise für den Klimawandel.

PM: Nein, das ist neoklassisch, nicht neoliberal. Die gängige neoliberale Sichtweise des Marktes stimmt nicht mit der neoklassischen Sichtweise überein. Im letzten Kapitel von Never Let a Serious Crisis go to Waste habe ich das Klima als ein perfektes Beispiel angeführt, weil diese Thinktank-Organisationen ein viel umfassenderes Konzept dafür haben, wie eine Politik des Klimawandels aussehen sollte, als die Linke. Sie haben dafür nicht nur eine Strategie, sondern mindestens drei Strategien, wenn nicht mehr; damit können sie verschiedene gegnerische Bereiche angreifen, aber auch in verschiedenen Zeitrahmen arbeiten, sodass sie den Möglichkeitsraum gewissermaßen präventiv besetzen. Man kann das konkretisieren, indem man sich die Gründung von Klimawandel-Abteilungen in amerikanischen Thinktanks ansieht. Das erste Element ist offensichtlich: Leugnung. Aber meinen Sie, dass die Leute in Thinktanks dar­an glauben? Ich würde sagen, nein; sie wissen, dass das nur eine kurzfristige politische Lösung ist – einen Nebel zu erzeugen, der einem Zeit verschafft, um Strategien wie den Handel mit CO2-Zertifikaten zu entwickeln. Der Emissionsrechtehandel ist gescheitert; es gibt sehr viel Literatur darüber, die vor allem besagt, dass die CO2-Emissionen dadurch nicht reduziert werden. Ich glaube, das ist ihnen klar, weil auch der Handel mit CO2-Zertifikaten nur ein Platzhalter in der mittelfristigen Planung ist und nicht ihre Lösung. Und was ist dann die Lösung? Es ist eine strahlende Science-Fiction-Zukunft namens „Geo-Engineering“. Viele dieser Thinktanks haben verschiedene Abteilungen: eine für die Leugnung, eine für den Zertifikate-Handel und eine für Geo-Engineering. Darum geht es: Sie besetzen den gesamten Raum, und die Linke geht ihnen auf den Leim.

AS: In all ihren Szenarien sind Technologien also die Lösung?

PM: Da wäre ich vorsichtig. Wenn sie keine Technik-Deterministen sind, warum sind sie dann für Geo-Engineering? Weil es eine privatwirtschaftliche Lösung für ein Problem ist, das der Kapitalismus überhaupt erst hervorbracht hat. Deshalb gefällt ihnen diese Lösung, und nicht, weil sie sie für zwangsläufig halten. Sie begeistern sich so sehr für Geo-Engineering, weil private Firmen tatsächlich über die Mittel verfügen werden, das Klima zu verändern, und das ist – aus ihrer Sicht – die wahre Lösung. Aus ihrer Sicht werden Märkte und Unternehmer*innen Lösungen anbieten, aber das können sie nicht sofort, und deshalb muss man vorübergehend die Leugnung akzeptieren. Man muss für diese Unternehmen Raum schaffen – wozu man auch die Wissenschaft braucht –, und aktuell leisten alle möglichen Wissenschaftler*innen dagegen Widerstand. Also muss man die Universitäten verändern und eher neoliberale Wissenschaftler*innen heranziehen, die das als eine positive Entwicklung betrachten werden. Das braucht Zeit.

Sehen Sie es einmal so: Es gibt einen schnellen Neoliberalismus, der politisch kurzfristig nützlich ist; es gibt mittelfristige Strategien, und es gibt einen langsamen Neoliberalismus, an den sie wirklich glauben, der aber nicht sofort in die Realität umgesetzt werden kann. Nehmen Sie irgendeine aktuelle Debatte, und Sie werden feststellen, dass sie immer auf dieselbe Weise vorgehen, von Arzneimitteln über die neoliberale Medizin bis zur Gentechnik.

AC: Sie beschreiben eine Art Allmachts-Szenario der neuen Denkkollektive …

PM: Nun, es ist eine politische Strategie, um in der Welt Fakten zu schaffen …

AS: Aber ich sehe darin Widersprüche, beispielsweise die Tendenz zur Monopolbildung und zum unternehmerischen Kannibalismus, wie im Fall des Saatgutmonopols, als Bayer Monsanto übernahm.

PM: Okay, ich verstehe. In dem Mont-Pèlerin-Sammelband gibt es dazu einen sehr aufschlussreichen Aufsatz von Rob Van Horn.02 Anfangs dachten die Neoliberalen: „Nun, die klassischen Liberalen waren offenbar gegen Monopole, also sollten wir auch dagegen sein.“ Van Horn bestimmt den genauen Zeitpunkt in der Chicagoer Szene, wo sie beschließen, dass Monopole überhaupt kein Problem sind, dass es nur Tausende von Unternehmer*innen geben sollte, die sich wie die Lemminge auf das Monopol stürzen, und viel­leicht wird eine*r von ihnen dafür sorgen, dass es untergeht. Es ist also überhaupt nicht schlecht, ein riesiges Monopol wie Amazon oder Google zu haben, und das ist einer der Gründe, warum alle Silicon-Valley-Typen diese Sachen lieben. Es sollten aber einfach alle möglichen Leute Risiken auf sich nehmen, Unternehmer*innen, die auf das Monopol losgehen. Die meisten von ihnen werden untergehen, so ist das halt. Vielleicht knackt einer von ihnen den Jackpot und zerstört das Monopol, und das ist auch gut.

AC: Aber diese Vision verweist – auch wenn das Bild übertrieben ist – auf einen nie dagewesenen historischen Bruch. Die Wirtschaft brauchte immer einen Gesellschaftsvertrag zwischen Herren und Knechten, zwischen denen, die die Arbeit machten, und denen, die davon abhängig waren. Hegel hat diesen Widerspruch sehr gut als ein dialektisches Verhältnis beschrieben. In der Hegelschen Version bestand die ausweglose Lage der Herren in ihrer Überflüssigkeit, weil sie sich nicht durch Arbeit verwirklicht haben. Aber jetzt gibt es – aufgrund der Technologie, die in den Händen der Herren liegt – die Vorstellung von einer Wirtschaft, die keine Knechte mehr braucht.

PM: Ich verstehe, was Sie meinen, weil ich denke, dass der Marktdesign-Ansatz dem ziemlich nahekommt. Es ist nicht so, dass sie wieder auf den Boden zurückkommen, weil sie die Ware definieren müssen oder definieren müssen, wer als Anbieter oder Käufer überhaupt Zugang zum Markt bekommt. Das kommt durch die Hin­tertür zurück, durch all die Dinge, die sie kontrollieren wollen. Aber dieser Ansatz ist viel offener für den automatisierten Handel als irgendeine andere Geschichte, die man über die Ökonomie erzählt hat, und ich glaube nicht, dass das Zufall ist. Ich denke eher, dass die moderne Wirtschaftswissenschaft eine starke antihumanistische Ten­denz hat. Aber vielleicht geht es nur darum, auf perverse Weise den Menschen loszuwerden. Es geht nur um Daten, der Mensch ist vollkommen egal. Man kann in hunderttausend Kategorien restlos aufgelöst werden, sodass der eigene Name keine Rolle mehr spielt. Sie brauchen ihn einfach nicht mehr, und ich glaube auch, dass diese Ökonomie in ihrer Einstellung zu den epistemischen Fähigkeiten der Menschen antihumanistisch ist. Diese Feindseligkeit richtet sich gegen Menschen, die denken, dass sie ihrem Leben einen Sinn geben können. Sie glauben einfach nicht daran.

 

01 Philip Mirowski, Never Let a Serious Crisis Go to Waste: How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown, New York: Verso 2013; dt. Untote leben länger. Warum der Neolibe­ralismus nach der Krise noch stärker ist, aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz, Berlin: Matthes & Seitz, 2015.

02 Robert Van Horn, „Reinventing Monopoly and the Role of Corporations: The Roots of Chicago Law and Economics“, in: The Road from Mont Pèlerin: The Making of the Neoliberal Thought Collective, hg. von Philip Mirowski und Dieter Plehwe, Harvard Uni­versity Press, 2009.